Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Kathleen.
»Ich glaube, sie hat sich nochmal hingelegt«, sagte Ann Marie. »Ich wollte gerade rübergehen, um sie zum Mittagessen zu holen. Du kommst gerade recht, es gibt Geflügelsalat.«
»Sie hat sich hingelegt?«, sagte Kathleen ungläubig. Hoffentlich hatte Maggie nicht auch noch Übelkeit oder Depressionen. Oder beides. Kathleen gefiel es gar nicht, dass Ann Marie mehr über Maggie wusste als sie. Auch nicht, wenn es nur um etwas so Belangloses ging. Hatte Maggie ihre Tante etwa eingeweiht? Hielt Ann Marie das Kathleen vielleicht sogar gerade unter die Nase? Machte sie sich etwa über sie lustig?
Kathleen musste unbedingt mit Maggie alleine sein.
»Ich hole sie«, sagte sie und schritt energisch auf den Eingang zu. »Wir kommen dann später rüber.«
Aber Ann Marie hatte sie wohl nicht verstanden. Sie kam hinter Kathleen her und sagte: »Ich brauche Chilipulver aus der Küche.«
»Bring ich dir nachher«, sagte Kathleen.
»Nein, schon in Ordnung. Du weißt ja gar nicht, wo es steht.«
Kathleen stöhnte unhörbar und sah sich Maggie schon einen Zettel zustecken: Um Mitternacht am Mietwagen, dann hauen wir hier ab.
Ein Schritt durch den Windfang und es war, als trete sie in die Vergangenheit. Hier hatte sich seit zehn Jahren nichts verändert. Nein, seit zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahren. Selbst der Geruch war der gleiche. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemals noch einmal hier zu stehen. Es fühlte sich seltsam an, und sie dachte unwillkürlich an Sonoma Valley: Die vertraute Straße durch das Weinbaugebiet bis zu ihrem Haus in Glen Ellen, vor dem Hundespielzeug und Düngemittelsäcke herumlagen – das war jetzt ihr Zuhause.
Sie ging durch den Flur. Seit sie denken konnte, hatte die Red-Sox-Baseballmütze ihres Vaters hier an einem Haken gehangen. Jetzt war sie nicht mehr da, und Kathleen fragte sich, was damit passiert war.
Maggie saß lesend in einem Wohnzimmersessel. Ihre kleine Tochter hatte noch ein richtiges Kindergesicht, und Kathleen hatte plötzlich wieder das Bild vor Augen, wie Maggie sich als kleines Mädchen in derselben Position in ein Buch vertieft in einen Sessel gekuschelt hatte. Kathleen packte das Bedürfnis, dieses Wesen zu beschützen, koste es, was es wolle.
»Mags?«
Maggie blickte auf. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff: »Mama!«
Ann Marie stand direkt hinter Kathleen: »Ja, deine Mutter ist da. Warum hast du uns bloß nichts davon gesagt, Maggie?«
Maggie stand auf und umarmte Kathleen fest. »Weil ich es selber nicht wusste.«
»Es sollte eine Überraschung sein«, sagte Kathleen zu Ann Marie und war bemüht, sorglos zu klingen, als machte sie alle Tage derartige Überraschungsbesuche.
»Wann bist du angekommen?«, fragte Maggie.
»Ich bin heute früh in Boston gelandet.«
»Und warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?«
»Ich hab’s ja versucht. Dein Handy ist ja immer aus.«
»Aber ich hab dir doch gesagt, dass ich hier draußen kaum Empfang habe. Du hättest auf dem Festnetz nebenan anrufen sollen.« Maggie trat einen Schritt zurück: »Sag mal, hast du etwa geraucht?«
»Was? Quatsch.«
Kathleen hatte erwartet, dass ihre Tochter sich über ihren Besuch mehr freuen würde. Sie waren einfach nicht so unbefangen, wie sonst, und das lag natürlich daran, dass beide wussten, weshalb sie gekommen war, aber noch nicht darüber sprechen konnten.
Sie musste jetzt Ann Marie gegenüber direkter werden, aber immer höflich bleiben: »Ann Marie, könntest du uns kurz allein lassen?«, fragte sie. Es klang gröber, als gewollt.
»Das würde ich ja«, sagte Ann Marie, »aber Connor isst heute bei uns und er muss gleich zu einem Termin zur Kirche zurück, also –«
»Connor?«, fragte Kathleen.
»Der Pfarrer, von dem ich dir erzählt habe«, erklärte Maggie.
Ach so. Natürlich. Der Pfarrer.
Dann sagte Maggie zu ihrer Tante: »Kein Problem, wir kommen schon«, und zu Kathleen: »Wir können uns doch nachher unterhalten.«
Kathleen kämpfte gegen das Gefühl an, ihre Tochter verstecke sich vor ihr.
»Okay«, stimmte sie zu, »dann essen wir eben schnell.«
Im Haus nebenan saß Alice rauchend am Küchentisch und plauderte mit einem gutaussehenden jungen Mann in Jeans.
Als sie Kathleen in der Tür stehen sah, sprang sie melodramatisch auf.
»Um Gottes willen! Von der Erfindung des Telefons hast du wohl noch nichts gehört?«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Mama.«
Plötzlich veränderte sich der Ausdruck ihrer Mutter, und ihr Gesicht
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