Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Werbebranche gearbeitet hatte, sich aber früh zur Ruhe gesetzt hatte und jetzt auf seinem Segelboot wohnte. Die meiste Zeit lag er irgendwo vor der Küste South Carolinas, aber im Sommer segelte er nach Norden und warf für ein paar Wochen vor Portsmouth den Anker.
»Das klingt alles traumhaft«, sagte sie.
»Und du?«, fragte er. »Was machst du so?«
Sie hasste diese Frage, aber sie war bei gesellschaftlichen Anlässen anscheinend unvermeidbar. Normalerweise antwortete sie: »Ich betreibe ein Zuhause«. Solange die Kinder noch bei ihnen gewohnt hatten, war das in Ordnung gewesen, aber jetzt kam sie sich dabei wirklich blöd vor.
Sie erzählte Adam, sie sei Innenarchitektin mit Sitz in Boston. Die Lüge ging ihr so leicht über die Lippen, dass sie sie beinahe selber glaubte. Und eigentlich stimmte es ja auch fast. Dann erwähnte sie ihren Mann und die drei Kinder.
Er sagte, dass er seit fünf Jahren geschieden sei. Sein achtunddreißigjähriger, unverheirateter Sohn lebe in Florida.
»Sind deine alle vergeben?«, fragte er.
»Eine ist verheiratet, der Sohn ist verlobt, und die Jüngste hat noch niemanden.« Soweit sie wusste, jedenfalls.
»Wohnt sie in der Nähe?«, fragte er.
»Sie ist seit ein paar Jahren mit dem Friedencorps in Afrika.«
»Wow.«
»Ja. Sie ein ganz besonderes Mädchen.«
In diesem Moment sehnte sie sich nach Fiona, wie nach dem fast vergessenen Geschmack eines Lieblingsessens aus der Kindheit. Sie wollte ihre Tochter bei sich haben, nicht diesen Fremden. Fiona war geduldig und eine gute Seele, gleichzeitig aber vollkommen unsentimental. Deshalb konnte sie auch Schulkindern erklären, warum Kondome wichtig waren und was AIDS bedeutete, obwohl sie wusste, dass die Hälfte der Kinder ihre Eltern an die Krankheit verloren hatten. Und deshalb konnte sie die erkrankten Kinder in den Schlaf singen, aber, wenn nötig, auch disziplinieren, als wären sie kerngesund.
Fiona würde wissen, wie jetzt mit Alice umzugehen war. Sie war wie geschaffen für derartige Situationen. Plötzlich fiel Ann Marie auf, dass es das erste Mal seit Monaten war, dass sie an ihre jüngste Tochter dachte, nicht nur an ihre homosexuelle jüngste Tochter. Sie spürte, dass das ein wichtiger Schritt war.
»Vielleicht sollten wir sie mit meinem Sohn verkuppeln«, sagte Adam im Scherz, und Ann Marie wurde ein bisschen traurig, aber nicht so sehr, wie sie erwartet hätte.
»Vielleicht«, erwiderte sie.
Im Hintergrund stimmten die Musiker ein Lied an, dass sie gut kannte: »The Black Velvet Band«.
»Das ist eins meiner Lieblingslieder«, sagte sie. »In den Achtzigern hab ich es von den Dubliners live gehört.«
»Möchtest du tanzen?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie grinsend.
Er stand auf und bot ihr seine Hand an. »Na komm schon, das ist doch dein Lieblingslied.«
Ann Marie stand auf. Sie fand das alles zugleich peinlich und schmeichelhaft. Ihre Töchter würden den Mann als schmierigen Typ bezeichnen, aber sie fand ihn eigentlich ganz süß. Sie ließ zu, dass er die flache Hand auf ihren unteren Rücken legte, und sie legte ihre auf seine Schulter, während sie sich langsam zur Musik bewegten. Es war eine Ewigkeit her, dass sie einem Fremden so nah gewesen war.
Die Musiker pfiffen und klatschten.
Dann begannen sie zu singen und Adam stimmte mit ein: Her eyes they shone like diamonds, you’d think she was queen of the land, with her hair flung over her shoulder, tied up with a black velvet band – Für mich war sie die Königin, ihre Augen strahlten wie Brillanten, ihr Haar lag auf ihrer Schulter, darin ein Band schwarz und samten.
Ann Marie hätte am liebsten auch losgesungen, aber sie traute sich nicht. Wenn Pat da gewesen wäre, hätte sie es getan. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an ihre Flitterwochen, in denen sie mit einem Mietwagen singend den Ring of Kerry in Irland entlanggefahren und zwischendurch in Kleinstadtpubs angehalten hatten, wo sie jedes Gesicht an jemanden aus Boston erinnerte. Pat hatte ein paar Verwandte in Killarney ausfindig gemacht, und als sie die trafen, hatten sie Ann Marie fest umarmt, als gehöre sie zur Familie, und zu ihr gesagt: »Willkommen Daheim.«
Ann Marie hatte sich damals so auf das gefreut, was sie als nächstes erwartete: Kinder und ein hübsches Eigenheim. Aber was danach kommen würde, daran hatte sie nicht gedacht. Manche Frauen in ihrem Bekanntenkreis waren glücklich gewesen, als ihre Kinder endlich aus dem Haus waren. Ann Marie hatte sich nur
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