Sommer in Maine: Roman (German Edition)
schönen Traum. Aus der Entfernung war es leicht, sich einzubilden, ihre Mutter und der ganze Rest der Familie existierten gar nicht. Naja, nicht ganz alle, denn ihre Kinder vermisste sie sehr.
Kathleen sorgte sich um ihren Sohn Chris und um die Entwicklung, die er zu nehmen schien. Anscheinend hatte er weder Träume noch Ambitionen, trank viel Bier und stritt sich unentwegt mit seiner Freundin, was meist damit endete, dass sie heulte und er mit seinen Freunden in die Kneipe zog. Kurzum: Er wurde seinem Vater immer ähnlicher.
Sie musste zugeben oder zumindest sich selbst gegenüber eingestehen, dass sie neidisch auf Pat und Ann Marie war, die im beruflichen Erfolg von Daniel Junior badeten. Ihr Junge wurde fast jährlich befördert, wohingegen Chris kaum eine Anstellung fand. Wenn er einen richtigen Vater gehabt hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Hätte sie das nur früher erkannt und ihn mehr unterstützt. Aber Kathleens Aufmerksamkeit hatte sich wie selbstverständlich immer eher auf Maggie konzentriert.
Ihre Tochter hatte sich toll entwickelt, und das, obwohl sie und Paul wirklich alles getan hatten, um ihr Leben zu ruinieren.
Kathleen hatte sie dazu erzogen, sich nicht zu verleugnen. Als Maggie klein war und ihr nichts wichtiger schien, als dazuzugehören, hatte Kathleen immer wieder denselben Satz wiederholt: »Sei kein Schaf!« Sie wünschte, jemand hätte ihr das Gleiche gesagt, als sie jung war. Der Gedanke, ihre Tochter könnte ein langweiliges Standardleben führen, war ihr unerträglich. Maggie hatte ihren Rat angenommen. Sie lebte jetzt als Schriftstellerin in New York und führte mutig das unabhängige, aufregende Leben, von dem Kathleen, wie ihr zu spät klargeworden war, geträumt hatte.
Bis sie begriffen hatte, dass sie eigentlich gar keine richtige Kelleher war und ihr Leben nicht damit verbringen wollte, jeden Sonntag bei Patrick und Ann Marie die Football-Universitätsligen zu verfolgen, während die Kinder im Garten spielten und die Frauen über Waschpulversorten diskutierend Nudelsalat machten, war es schon zu spät und sie war verheiratet und hatte zwei Kinder. Als junge Mutter zu erkennen, dass man sich nach Unabhängigkeit sehnte, kam ungefähr so gelegen, wie wenn man jemanden kaltblütig massakrierte und sich danach überlegt, dass man eigentlich doch kein Mörder sein will. Also trank sie zu viel, zoffte sich mit ihrem Mann und mit Alice und bekam nichts mehr auf die Reihe. Einmal war sie torkelnd auf einem Elternabend erschienen und hatte der Lehrerin einen Schrecken eingejagt. Meistens fing sie schon mittags zu trinken an. So ging das bis zu dem Frühling, in dem sie mit den Kindern nach Maine fuhr und den Tiefpunkt erreichte. Heute wusste sie, dass man manchmal bis auf den Grund sinken muss, um sich wieder abstoßen zu können, und sie bereute nichts. Ihre Erfahrungen hatten sie sehr verändert, und sie war durch sie eine Frau geworden, die sie eigentlich ganz gern hatte.
Die Jahre mit den Kindern zuhause hatte sie überstanden, indem sie sich immer wieder sagte, dass sie frei sein würde, sobald Maggie und Chris aufs College gingen, und so ungefähr war es auch gewesen. In der Zwischenzeit hatte sie sich ganz darauf konzentriert, trocken zu bleiben. Sie legte im Hinterhof einen Gemüsegarten an, stellte fest, dass Yoga und lange Spaziergänge Stress besser abbauten als Chardonnay und dass es sich lohnte, von der Heilkraft von Kräutern und Wurzeln zu wissen, anstatt sich auf kleine Plastikphiolen zu verlassen. Ihr Vater lieh ihr das Geld für die Abendschule und den Abschluss. Danach arbeitete sie als Vertrauensperson an einer Privatschule mit überprivilegierten Mädchen mit Essstörungen, die sich selbst nicht ausstehen konnten. Sie ging viel aus. Ann Marie und Alice hielten sie wohl für die Hure Babylon. Oh Gott: Eine Mutter mit sexuellen Bedürfnissen. Wenn es nach ihnen ginge, hätte sie sich ihre Vagina wohl zumauern lassen sollen, mit einem BETRIEB-GESCHLOSSEN-Schild davor. Dass sie erst neununddreißig war und sich selbst gerade erst kennenlernte, war anscheinend egal.
Von den dunklen Seiten der Mutterschaft hatte Kathleen niemand etwas gesagt. Man gebar und die Leute brachten einem süße Schühchen und hellrosa Deckchen. Dann war man allein, der Körper versuchte zu heilen und der Geist stumpfte ab. Es war eine Mischung aus echter Liebe und Freude mit tödlicher Langeweile und gelegentlich blinder Wut. Je älter die Kinder wurden, desto weniger schwer war
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