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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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wurde.
    »Vielen Dank«, sagte Maggie höflich.
    Das Telefonat war beendet. Maggie blickte zum gepackten Koffer hinüber. Vielleicht sollte sie wirklich alleine fahren. Es könnte ihr gut tun. Wenn nur Alice nicht so unberechenbar wäre und ihr Verhalten nicht blitzartig von liebenswert nach albtraumhaft umschlagen könnte.
    Es war fast peinlich, wie sehr sie sich nach Alices Zuneigung sehnte, und wie seltsam sie sich deshalb oft in ihrer Gegenwart verhielt. Um ihrer Großmutter zu gefallen, trank sie mehr, wenn sie bei ihr war. Diesen Punkt hatte sich Dr. Rosen mal eine ganze Sitzung lang vorgenommen. Aber ihre Loyalität gehörte Kathleen, und wenn sie daran dachte, was Alice ihrer Mutter angetan hatte, wollte sie am liebsten die Beziehung zu ihr abbrechen.
    Aber es war nicht nur Kathleen. Vor Alices Zorn war niemand sicher. Sie war eine seltsame Frau: Aufbrausend und charmant mit einer großen, raumgreifenden Persönlichkeit. Aber manchmal wurde sie ohne Warnung giftig. Alice konnte einem üble Sachen an den Kopf werfen, Bemerkungen, die man für den Rest seines Lebens mit sich herumtrug. Und im nächsten Augenblick lächelte sie wieder und erklärte einen für überempfindlich. In der Woche vor Maggies Abschlussball war sie zum Abendessen bei ihren Großeltern gewesen. Den ganzen Abend hatte sie mit Alice und Daniel gelacht und war mit ihnen durchs Wohnzimmer getanzt, weil sie ihr den Charleston und den Twostepp beibringen wollten. An jenem Abend hatte sie gespürt, wie lieb sie die beiden hatte und sich geschworen, sie öfter zu besuchen. Aber beim Abschlussball hatte Alice dann vor Maggies Begleiter und dessen Eltern gesagt: »Ach, Maggie, hättest du dich nicht dies eine Mal mit Süßigkeiten zurückhalten können? Schatz, du bist ja richtig fett!«
    Maggie war klar, dass die Abneigung ihrer Großmutter gegenüber ihrem Zweig der Familie etwas mit Eifersucht zu tun hatte, weil ihr Großvater Kathleen und ihre Kinder ganz besonders geliebt hatte. Aber eigentlich war das doch komisch. Würde man sich nicht wünschen, dass der Ehemann die Kinder und Enkelkinder hingebungsvoll liebte? Aber Alice tickte anders.
    Nach dem Tod ihres Großvaters hatte Maggie sich vorgenommen, ihre Großmutter zwei- bis dreimal die Woche anzurufen. (Ihrer Mutter gegenüber musste sie das verschweigen. Kathleen hatte sich nach dem, was bei der Beerdigung passiert war, geschworen, nie wieder mit Alice zu sprechen.) Aber Alice wollte gar nicht reden und brach das Gespräch jedes Mal schon bald ab, indem sie etwas sagte wie: »Solltest du nicht schreiben, anstatt mit mir am Telefon zu hängen?« oder von Ferngesprächskosten sprach, als wären sie in den Fünfzigern. Mittlerweile rief Maggie sie nur noch selten an. Manchmal nahm sie sich vor, einen langen Brief zu schreiben, aber was sollte da drinstehen? Alice rief Maggie auch nicht oft an, und wenn doch, hatte sie meistes irgendeine komische Bitte. Ob Maggie in der St. Patrick’s Cathedral von New York eine Kerze für ihren Cousin Ryan anzünden könne, der bald ein wichtiges Vorspiel habe, oder für Fiona, die dem Herren im fernen Afrika mit ihrer Arbeit für das Friedenscorps diene? Maggie schlug ihr diese Bitten nie aus und nahm sich jedes Mal fest vor, es zu tun, aber dann vergaß sie es schließlich oder redete es sich aus: Erstens war die Kathedrale am anderen Ende der Stadt. Und zweitens war unklar, ob dem Gott, an den sie nicht glaubte, eine zwischen an Starbucksbechern schlürfenden Touristen entzündete Fünfdollarkerze mehr bedeutete, als ein ernstes Gebet in einer bescheidenen Kirche in der Cranberry Street gleich um die Ecke.
    Maggie hatte immer gedacht, dass es bei Familientreffen fröhlich herging und alle liebevoll miteinander umgingen, aber meistens war es entweder langweilig oder angespannt. Seit dem Tod ihres Großvaters waren die schönen Treffen noch seltener geworden. Die Erinnerung daran aber brachte die Kellehers immer wieder in der Hoffnung auf ein ähnlich schönes gemeinsames Erlebnis zusammen. Maggie war das alles klar, und trotzdem war ihre Sehnsucht groß.
    Besonders vermisste sie die Sommer ihrer Kindheit, als die ganze Familie zusammen nach Maine fuhr. Damals war Alice die Dame des Hauses, organisierte große gemeinsame Abendessen und lange Ausflüge an unbekannte Strände oder wies ihren Mann an, die Enkel bei Ebbe nach Kittery zum Muschelsuchen mitzunehmen. Dann quetschten sie sich in seinen Buick, standen wenig später im flachen Uferwasser, drückten

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