Sommer in Maine: Roman (German Edition)
die Harken und die nackten Füße tief in den Schlamm und schrien vor Freude und Schreck, wenn sie auf eine Muschel stießen. Sie füllten einen Eimer nach dem anderen mit ihrem Fang und bei Sonnenuntergang sagte Daniel: »So, dann bringen wir unsere kleinen Freunde mal zur Oma. Dann kommen sie in den Kochtopf!« und Maggie, Fiona und Patty brüllten im Chor: »Nein!« und die Jungs schrien: »Ja!« und ihr Großvater stand dazwischen und lachte. Sie hatten nie auch nur eine einzige Muschel nach Hause gebracht.
Seit Onkel Patricks Aufteilung der Sommermonate war Maggie jedes Jahr im Juni nach Cape Neddick gefahren. Normalerweise mit Allegra oder Freunden aus der High School. Aber es war nicht mehr das Gleiche. Ihre Großmutter lud sie fast nie zu sich in den Neubau ein und zeigte wenig Interesse, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie tat immer so, als habe sie unglaublich viel zu tun, aber was genau, blieb Maggie ein Rätsel. Abgesehen von einer verkrampften Begrüßung, einem ähnlichen Abschied und ein oder zwei kurzen Abendessen wechselte Maggie bei ihren Aufenthalten kaum ein Wort mit Alice. Anscheinend gefiel es ihrer Großmutter, sich im Haus nebenan zu verbarrikadieren.
Aber als sie Gabe im letzten Sommer mitbrachte, war ihre Großmutter plötzlich aufgeblüht. Diese schönen gemeinsamen Tage hatten Maggie an früher erinnert. An einem der Abende spielte Alice ein paar Lieder aus alten Musicals und Gabe schmetterte dazu in so schiefen Tönen den Text, dass einem die Ohren wehtaten. Es hatte Maggie überrascht und gerührt, dass er die Lieder so gut kannte. Er fragte Alice über ihre Lieblingslektüre aus und wollte wissen, was ihre witzigste Erinnerung an Maggies Kindheit war.
»Sie sind wundervoll«, sagte er immer wieder. Das irritierte Maggie ein bisschen. Schließlich hatte sie ihm erzählt, wie schlecht Alice ihre Mutter behandelt hatte, und vielleicht hatte sie sich ein bisschen gewünscht, dass er deswegen mit Alice nicht so schnell warm geworden wäre.
Eines späten Abends förderte er Dinge zutage, die Maggie viele Male aus ihrer Großmutter zu locken versucht hatte: Sie teilte in einem Gespräch Erinnerungen mit ihm, die sie mit ins Grab nehmen würde, wenn sie sie jetzt nicht erzählte. Alice war gerade dabei, ihm eine Geschichte von Maggie und Chris zu erzählen. Sie hatten ihr im Zoo einen Streich gespielt, sich versteckt und Chris’ Baseballmütze in den Affenkäfig geworfen. Gabe lachte, und Maggie schloss sich ihm an, obwohl sie relativ sicher war, dass ihre Großmutter die Geschichte erfunden hatte.
Dann fragte sie: »Sag mal, Oma, wie war denn deine Kindheit eigentlich? Kannst du uns nicht davon mal was erzählen?«
Plötzlich verdunkelte sich Alices Blick: »Es ging gerade um etwas ganz anderes«, sagte sie. »Jetzt hast du mich unterbrochen. Wie dem auch sei, es ist spät und ich habe noch zu tun. Wir sehen uns morgen, Kinder.«
Als Gabe und sie im Bett lagen, sagte Maggie: »Hab ich’s nicht gesagt? Sie hasst mich abgrundtief.«
»Sieht so aus«, sagte Gabe lächelnd. Dann nahm er sie in die Arme und sagte: »Aber ich liebe dich abgrundtief. Deine Tiefen sind nämlich unglaublich sexy.«
»Aber ehrlich«, sagte Maggie. »Ich wünschte, sie würde mich nur halb so sehr mögen, wie sie dich mag.«
»Du gehörst zur Familie, das ist etwas Anderes«, sagte er. »Ich kapier gar nicht, warum dir ihre Zuneigung so wichtig ist. Ihr seid euch so unähnlich.«
Worüber würde sie sich zwei Wochen lang mit Alice allein in Maine unterhalten? Sie konnte sich die Situation noch nicht ganz vorstellen, würde es aber gerne ausprobieren. Alice war jetzt auf dem Grundstück ganz allein, und vielleicht ließ sie geistig langsam ein bisschen nach. Sie wirkte manchmal verwirrt. Kathleen meinte, Alice habe die Konstitution eines Pferdes, aber wie viele Sommer blieben ihr wirklich noch?
Maggie dachte an das alte Sommerhaus. Es bedeutete ihr so viel. Dr. Rosen hatte recht: Es war wirklich kein Ding, den Bus zu nehmen, und das Meer würde sie stärken. Und wenn sie es doch nicht aushielt, würde sie auf dem Absatz kehrt machen und wieder nach Hause fahren.
Ja, die Sache war entschieden.
Aber einen Tag konnte sie Gabe noch geben. Nur für den Fall, dass er es sich doch noch einmal anders überlegte.
Gegen Mittag wählte Maggie die Nummer in Maine, und nach vier Klingeltönen meldete sich Alice mit schwerer Zunge. Maggie hatte sie früher nie trinken sehen, aber seit dem Tod ihres Großvaters hatte Alice
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