Sommer in Maine: Roman (German Edition)
fast immer ein Glas in der Hand, auch zu so früher Stunde schon.
»Hallo Oma, ich bin’s, Maggie.«
»Einen Moment, ich muss noch so ein Dingsda ins Buch stecken, weißt du, damit ich die Seite wiederfinde«, sagte Alice. Kurze Zeit später nahm sie den Hörer wieder auf: »Wie geht’s dir, Schatz?«
»Gut. Und dir?«
»Ausgezeichnet. Ich hab’s vorhin bei dir versucht.«
»Ich weiß, deshalb rufe ich auch an.«
»Du weißt, dass ich es war? Aber ich hab doch keine Nachricht hinterlassen.« Sie klang misstrauisch, als würde Maggie lügen oder wäre bei der CIA.
»Was treibst du so?«, fragte Maggie.
»Ich habe gerade mein Abendessen in den Ofen geschoben, und jetzt lege ich auf der Veranda die Füße hoch. Die bringen mich noch um. Durchblutungsstörungen, schätze ich. Hast du die neue David-Copperfield -Verfilmung auf PBS gesehen? Die würde dir gefallen. Sie bringen sie diese Woche in fünf Teilen. Gestern Abend habe ich den zweiten Teil gesehen. Eine Frau aus der Gemeinde hatte es empfohlen. Mit dieser Schauspielerin … die mit den unglaublich großen Augen … ach, wie heißt sie doch gleich? Ann Marie würde es wissen, ich muss sie später fragen. Sie hat auch in Bleak House mitgespielt. Na, egal. Wann kommt ihr?«
Alice monologisierte, und Maggie fragte sich, wann sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen hatte. Manchmal stellte Maggie sich Alices Alltag vor, und das Bild der Einsamkeit, das sich ergab, tat ihr in der Seele weh. Es war gut, dass sie nach Maine fuhr.
»Morgen. Dann können wir die nächsten Folgen zusammen sehen.«
»Ja, meinetwegen. Und sag Gabe, dass ich Noten aus der Bibliothek da habe: Das Schönste vom Broadway .«
»Tja, also ich komme diesmal alleine«, sagte Maggie.
Wahrscheinlich hatte Alice sie nicht gehört, denn sie fuhr fort: »Und ich muss zum Supermarkt, damit ich seine Lieblingsmuffins noch kriege. Im Augenblick ist Hamburgerfleisch im Angebot. Wir könnten morgen grillen. Oder ich mache einen Hackbraten. Ja, das ist bei der Wetterlage wahrscheinlich sicherer.«
Wenn es sie nur nicht so eifersüchtig machen würde, dass Alice sich offensichtlich mehr auf Gabe als auf sie freute. Vielleicht hätte sie in diesem Moment etwas wie Wir haben uns getrennt oder Oma, Gabe ist ein Arschloch sagen sollen.
Stattdessen sagte sie nur: »Klingt gut.«
»Herrgott, dieses Gespräch muss dich ein Vermögen kosten«, sagte Alice dann. »Ein Ferngespräch vom Mobiltelefon? Wir machen besser Schluss.«
»Im Mobilfunknetz gibt es keine Ferngespräche«, sagte Maggie.
»Wie bitte?«
»Nichts weiter. Ich hab dich lieb.«
Es war etwas unnatürlich, Alice diese Worte zu sagen. Aber es nicht zu sagen wäre auch komisch gewesen.
Kaum hatte sie aufgelegt, sah Maggie auf ihr Handy, als hätte sie einen Anruf von Gabe verpassen können.
Sie unterdrückte die aufkommenden Angstgefühle. Die Schwangerschaft war eine Tatsache, aber manchmal konnte sie fast glauben, alles sei beim Alten. Vielleicht fing es so auch bei den Frauen an, die im neunten Monat in einer McDonald’s-Toilette entbanden.
Sie schaltete den Fernseher ein. Eine Stunde später bekam sie mitten in einer Folge von Golden Girls plötzlich wildes Herzklopfen. Sie atmete tief durch. Dann sah sie die roten Flecke an ihren Unterschenkeln.
Maggie beugte sich vor und steckte den Kopf zwischen die Beine. Machte man das in solchen Fällen nicht so?
Aber es half nichts, also setzte sie sich hin und rief ihre Mutter an. Sie konnte die Sache nicht länger für sich behalten. Diese Schwangerschaft war im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen. (Konnte man eine Allergie gegen den eigenen Fötus entwickeln? Nein, das war ja lächerlich.) Kathleen würde wissen, was zu tun war.
Maggie sprach mindestens einmal am Tag mit ihrer Mutter, aber jetzt, da es wirklich etwas zu besprechen gab, war ihr bang.
Sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihren Vater anzurufen, obwohl er in derselben Zeitzone lebte. Mit ihm telefonierte sie nur alle paar Wochen, und dann sprachen sie über Banalitäten: Wie die Red Sox sich entwickelten, was von der neuesten Criminal-Intent -Staffel zu halten sei und ob der Hausmeister den Rauchmelder richtig installiert habe. Er hatte vergangenes Jahr seine Freundin Irene geheiratet, mit der er schon lange zusammen war. Als Trauzeugen hatte er sich Chris ausgesucht. Ihr kleiner Bruder hatte ihr leid getan: Dieser Mann, der es immer gut meinte, aber mit emotionaler Blindheit geschlagen war, sollte also sein Vater
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