Sommer, Sonne, Ferienglück
wissen, wo? Da braucht man keine Apparate, um das festzustellen. Im Kopf. – Und vielleicht auch noch woanders …«
Giulietta lächelte. Ob sie das alles verstand? Der Doktor war rot angelaufen. Aber den Mund brachte er nicht auf.
Hedwig Pauli nutzte es erbarmungslos. »Gucken Sie nur, Schürmännchen. Nicht ich, Sie sind der Patient. Und dazu braucht es keine Diagnose. Ein Blick in den Spiegel reicht vollauf. Da drüben hängt einer. – Na, los schon! Gucken Sie sich doch mal selber an.«
»Was soll das jetzt wieder?«
»Wie? Sie haben recht: Sie brauchen gar nicht zum Spiegel.«
Hedwig Pauli nahm die goldgeflochtene Handtasche, öffnete die Bügel und zog ein Taschentuch heraus. Es war zarter Batist. »Da, wischen Sie sich erst mal diese Lippenstiftschmiere aus dem Gesicht, ehe Sie Ihre Patientin weiter mißhandeln. Bei Ihrem wunderschönen Anzug wird das Taschentuch ja nicht helfen. Den geben Sie wohl besser gleich in die Reinigung, ja?«
Dr. Hans-Dieter Schürmann schluckte. Und jetzt waren nicht nur die Ohren, das ganze Gesicht war knallrot. Fast so rot wie der Lippenstiftabdruck an seiner rechten Kinnseite.
Und Giulietta lächelte nicht länger, sie lachte.
»Sehen Sie, Schürmännchen«, schloß Hedwig Pauli schon etwas versöhnlicher, »so wird man zum Gespött der Leute. Und jetzt, jetzt bringen Sie mich nach Hause. Aber mit heilen Knochen. – Giulietta, machen Sie doch bitte diesem Herrn noch einen Kaffee. Ich will nämlich endlich ins Bett …«
***
Dr. Schürmann hatte das Fenster des alten Benz heruntergekurbelt. Die Nachtluft tat gut, sie kühlte die Stirn und vertrieb die Alkoholschleier, die dahinter wogten. Gegen die Einsicht, soeben eine große Niederlage erlitten zu haben, kam sie allerdings nicht an.
Draußen flitzten Lichter vorbei.
Oben auf dem Mirtillo-Hof sangen und tranken sie noch immer.
»Ich war ein Idiot. Sie haben völlig recht gehabt, Frau Pauli. Ich habe mich aufgeführt wie ein Volltrottel. Und außerdem, auch das stimmt: Das ist ja nun wirklich eine richtige Tussi.«
»Wie bitte?« Hedwig Pauli hielt die Hände im Schoß gefaltet.
»Eine Tussi! – Sie haben das doch gesagt!«
Hedwig Pauli schwieg.
Dr. Schürmann, nun doch ein wenig beunruhigt, drehte den Kopf: »Aber was war denn mit Ihnen? Sie hatten ja einen völlig normalen Blutdruck. Und der Puls war auch in Ordnung. Wie kam denn der Schmidle auf die Idee, daß Ihnen was fehlt? Rannte da auf dem Parkplatz rum und erschreckte die Leute.«
»Mir fehlte nichts. Überhaupt nichts. Das war eher psychisch. Ich hatte eine Erscheinung …«
»Sie hatten was?!«
»Wissen Sie, als Kind hat mich mein Vater mal nach Bayreuth geschleppt. Wagner. Siegfried … Ich war neun Jahre. Und das war nun sicher eine ganz schrecklich kitschige Inszenierung. Aber da machte es plötzlich buff, dann gab's Bühnenqualm … Und da stand er, ganz in Weiß: Siegfried!«
»Aber …«
»Nichts aber. Überlegen Sie doch mal, welchen Eindruck das bei einem Kind hinterläßt. Oder stellen Sie sich vor, Schürmännchen, Sie gehen nachts durch den Wald. Aber nicht betrunken, sondern nüchtern. Nur dunkle Stämme und Stille … Alles duster. Tannen, Schürmännchen. Und dann, plötzlich …«
»Ja?«
»… kommt Ihnen ein weißes Fabelwesen entgegen. Ein Einhorn vielleicht … Wunderschön, mit riesigen, schwarzen Augen und diesem Horn auf der Stirn.«
Dr. Schürmanns Mund war ganz trocken. Was war bloß mit der Pauli los? Die Alte kannte doch sonst nur Bilanzen und Steuerärger. Und jetzt? – Einhörner?!
»Aber bei Ihnen würde das ja nicht reichen. Da müßte schon eine nackte Frau oder so was darauf sitzen. Gut, stellen Sie sich vor, ein Einhorn und darauf ein wunderschönes Mädchen, eingehüllt in langes, goldenes Haar – was würden Sie da tun?«
»Vielleicht hätte ich Mühe mit meinem Mund. Wegen 'ner Kiefersperre oder so was.«
»Sehen Sie, Schürmännchen«, sagte Hedwig Pauli, »genau das hatte ich auch. – So 'ne Art geistige Kiefersperre.«
»Aber wieso denn? Und was heißt Erscheinung?«
»Das werde ich Ihnen erklären. Aber so langsam brauchen Sie nun auch nicht durch die Gegend zu trudeln.«
Sie hatten die Uferpromenade von Collano erreicht. Unter den schweren Steinbögen der Arkaden, vor den erleuchteten Schaufenstern der Boutiquen und Geschäfte war nichts als Gedränge. Und davor, draußen auf dem Platz, da saßen sie nun, Touristinnen und Touristen, junge und alte, braune und blasse, dicke
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