Sommer unter dem Maulbeerbaum
er log. Also rief ich einen Bekannten in L. A. an und stellte ein paar Fragen. Es war genau so, wie ich mir das gedacht hatte: Harper Kirkland war ein Niemand. Er hat auf ein paar Sets als Laufbursche gearbeitet, aber der Widerling hat so viele Streitereien angezettelt, dass man ihn jedes Mal rausschmiss. Er hat sich seinen Lebensunterhalt mit kleinen Jobs verdient.«
»Streitereien?«, hakte Matt nach. »Was für Streitereien?«
»Alles Mögliche. Er hat gemeine Sachen gemacht, Leute gegeneinander aufgewiegelt. Er liebte es, Unfrieden zu stiften.«
»Und mein Vater war den ganzen Sommer über zu Hause«, erinnerte sich Matt. »Er hatte sich sein Fußgelenk gebrochen und konnte nicht Auto fahren.«
»Ja«, bestätigte Violet und sah Matt an. »Ich hab deinen Vater nur ein paarmal getroffen, aber er war ein wirklich netter Kerl.«
»So nett, dass er seine Familie sitzen gelassen hat.«
»Es waren also alle sechs hier, und Frank ...«, ermunterte Bailey Violet fortzufahren.
»Ja«, nahm Violet den Faden wieder auf. »Am 30. August erschoss Frank seine junge, schwangere Frau und dann sich selbst.«
»Und Gus Venters erhängte sich in einer Scheune«, ergänzte Matt.
»Ich frage mich, ob Jimmy das alles mitangesehen hat«, warf Bailey leise ein.
»Mein Mann hat sich nach dieser Nacht sehr verändert«, sagte Violet. »Er wurde depressiv, schwer depressiv, und so ist es geblieben, bis sein Flugzeug abstürzte und seinem Elend ein Ende setzte.«
Einen Augenblick lang verharrten die drei in Schweigen, dann ergriff Violet wieder das Wort und brach den Bann. »Nach dem Tod meines Mannes fand ich ein paar Sammelalben, die er als Kind geführt hatte. Wollt ihr sie sehen?«
»Ja!«, rief Bailey, bevor Matt noch etwas erwidern konnte, und fünfzehn Minuten später hatten sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine gestellt, die Carol hatte einbauen lassen. Bailey musste zugeben, dass Carol bei der Umgestaltung der alten Küche exzellente Arbeit geleistet hatte. Sie hatte das abgetretene Linoleum rausreißen und die breiten Dielen neu versiegeln lassen. Neben der Spüle hatte sie einen Schrank wegnehmen lassen, um Platz zu schaffen für den Geschirrspüler. Die übrigen Schränke waren gereinigt worden, die abgenutzten Scharniere hatte man erneuert, doch klugerweise hatte Carol sie nicht einmal neu gestrichen. Die Spüle, der alte Herd und sogar der Kühlschrank von Anno dazumal waren alle gereinigt und repariert, aber nicht ausgetauscht worden. Am Ende sah die Küche so aus, wie sie vermutlich bei ihrem Einbau in den Dreißigerjahren ausgesehen hatte. Bailey musste zugeben, der Effekt war wundervoll.
»Hier sind sie«, sagte Violet und legte drei Alben auf den Couchtisch im Wohnzimmer. Dann nahm sie auf einem neu gepolsterten Stuhl Platz. Auch in diesem Raum hatte Carol lediglich alles in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt, und es sah toll aus, perfekt dem Stil des Hauses angepasst.
Eine Stunde lang tranken die drei, während es draußen dunkel wurde, Kaffee und Likör und gingen die Alben durch.
Es befand sich nichts Bemerkenswertes darin, nur die üblichen High-School-Ausschnitte und Fotografien. Als Bailey allerdings daran dachte, was mit den lachenden Kindern auf den Bildern geschehen war, kamen ihr die Bücher recht traurig vor. Zum größten Teil stammten die Bilder aus der Zeit, als Burgess in Calburn zur Schule gegangen war, und noch nicht in Wells Creek.
Einmal zeigte Matt auf ein Foto und sagte zu Violet: »Ist das Bobby?« Sie bejahte die Frage auf so eigenartige Weise, dass Bailey sich erkundigte, wer denn Bobby sei.
»Burgess’ älterer Bruder«, erwiderte Violet hastig.
»Starb als Kind«, ergänzte Matt ebenso hastig, bevor er wieder in das Album auf seinem Schoß blickte. Daran, wie er das sagte, erkannte Bailey, dass sie nichts weiter aus ihm herausbekommen würde, genauso wie es ihr nicht gelungen war, mehr von ihm darüber zu hören, was Alex bei Dolores in Erfahrung gebracht hatte. Alles, was Matt ihr mitteilen wollte, war, dass Dolores bestätigt hatte: Ja, Jimmy hatte ihre
Mutter ein Papier unterschreiben lassen, und das hatte er dann »dem Menschen gegeben, dem er auf der Welt am meisten vertraute.« Er sagte nichts darüber, ob Dolores Alex gefallen hatte, ob sie auch weiterhin Kontakt halten würden, gar nichts. Das Einzige, was Matt mit ihr besprechen wollte, war die Tatsache, dass sie rechtmäßig mit James Manville verheiratet gewesen war. Jetzt
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