Sommer unter dem Maulbeerbaum
hatte zu dem Punkt geführt, an dem sie sich jetzt befand. Sie musste ein paar wichtige Entscheidungen treffen. Sie konnte alles so weiterlaufen lassen wie bisher - und bei diesem Gedanken fiel ihr wieder ein, dass sie ja immer alles hatte weiterlaufen lassen wie bisher. Zwar war Jimmy schon reich und berühmt, als sie sich begegneten, doch er war mindestens so berühmt für seine waghalsigen Unternehmungen gewesen wie für alles andere. Nach ihrer Hochzeit hatte er seine extravaganteren Betätigungen an den Nagel gehängt und war in die, wie die Medien es nannten, »Welt der ganz Großen« eingetreten. Erst nachdem er die junge, schweigsame, rundliche Lillian Bailey geheiratet hatte, wurde er zum Anwärter auf den begehrten Titel des reichsten Mannes der Welt.
Sie wusste, das, was sie Jimmy gegeben hatte, war das Wissen darum, dass ein Mensch auf der Welt ihn durch und durch kannte, sein wahres Ich, und ihn dennoch liebte. Wahrhaftig geliebt zu werden, war das nicht die stärkste Droge, die es gab? Jimmy hob sie oft hoch, wirbelte sie hemm und sagte: »Du gibst mir die Kraft, es zu tun, Sprösschen. Ich brauche nicht viel auf dieser Welt, aber ich brauche dich.«
Und jetzt war sie, genau wie bei Jimmy, im Begriff, sich in Matt aufzulösen. Sie lud ihm die Last auf, die
sie schon Jimmy aufgeladen hatte, alles und jeder für sie zu sein. Sie blieb zu Hause, verkroch sich in der Küche und erwartete, dass Matt die Welt zu ihr brachte. Bailey gab sich keine Mühe, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Und in ihrem Inneren schwelte der Ärger über Möbel, die sie nicht wollte, und Gäste, die sie nicht mochte.
Bailey schlug die Hände vors Gesicht. Sie erinnerte sich zwar nicht gerne daran, aber während der letzten beiden Jahre mit Jimmy war sie sehr unglücklich gewesen.
Als sie noch in den Zwanzigern war, war sie so vernarrt in ihn gewesen, dass sie alles, was er tat, für wunderbar hielt. Doch als sie die dreißig überschritten hatte - erst vor zwei Jahren - hatte sich etwas in ihr verändert. Sie hatte keine Ahnung, was es ausgelöst hatte, doch scheinbar über Nacht war sie über alles gereizt und wütend geworden. Jimmy fragte sie oft, was denn los sei, und sie fauchte, es sei nichts. Dann sagte sie ihm, sie wolle wegfahren, egal wohin. »Da wirst du auch nur dich selbst mitnehmen«, hatte Jimmy einmal erwidert und sie eindringlich angesehen.
Bailey lehnte sich gegen den Baum und atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Was sollte sie tun, jetzt, wo ihr all diese Dinge über sie selbst klar geworden waren? Die Wahrheit war, sie hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, »sie selbst“ zu werden, wie die Selbsthilfebücher es nannten. Sollte sie heute Abend beim Essen zu Matt sagen: »Ich habe beschlossen, ich selbst zu werden«? Und was dann? Aufstehen und ihm einen Nachschlag auf den Teller geben?
Nein, Matt war nicht das Problem. Er war ein netter Mensch. Sie hatte ihn gern. Zwischen ihnen be-stand nicht viel Leidenschaft, doch es war behaglich, etwas, womit sie leben konnte.
Das Problem war, dass Bailey sich ein Leben lang nur immer auf andere eingestellt hatte. Und sie wusste nicht genau, wie sie das ändern sollte. Sie war unter dem Regiment ihrer Mutter und ihrer Schwester Dolores aufgewachsen. Beide waren ...
Für einen Augenblick schloss Bailey die Augen und dachte an ihren Vater zurück. Genau wie sie hatte Herbert Bailey gerne anderen die Entscheidungen und die Verantwortung überlassen. »Du und ich wir brauchen Menschen wie deine Mutter und Dolores, die uns weiterhelfen“, hatte er oft zu Bailey gesagt. »Und außerdem werden Menschen wie sie leicht wütend, wenn man sich ihnen widersetzt; da ist es besser, sie den Laden schmeißen zu lassen.«
Und nach dieser Regel hatte er gelebt. Jeden Tag war er zur Arbeit gegangen, abends stets um exakt die gleiche Zeit heimgekommen, und freitags hatte er seiner Frau den Gehaltsscheck ausgehändigt. Er ließ seiner Frau jegliche Freiheit mit dem Geld, dem Haus und ihren Töchtern und war zufrieden, wenn er nur in seinem Sessel sitzen und die Zeitung lesen konnte.
Er starb an einem Sonntagnachmittag in eben diesem Sessel. Lillian hatte den ganzen Tag über in der Küche gestanden und alles für einen Kochwettbewerb vorbereitet, dann war sie über die Hintertreppe ins Bett gegangen. Da im Wohnzimmer kein Licht mehr brannte, hatte sie angenommen, ihre Eltern und ihre Schwester seien bereits im Bett. Sie gehörten nicht zu den Familien,
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