Sommer unter dem Maulbeerbaum
die einander darüber informierten, wo sie hingingen oder wann.
Früh am nächsten Morgen war Bailey die Straße hinuntergegangen, um das Kind einer Nachbarin zu hü-ten, und erst nach dem Mittagessen zurückgekehrt. Als sie ins Wohnzimmer kam und ihren Vater in genau derselben Position wie am Vortag in seinem Sessel vorfand, wusste sie, dass er tot war. Als sie ihm die Lippen auf die Stirn drückte, war sein Körper bereits steif und kalt. Am Abend zuvor hatten ihre Mutter und ihre Schwester ihn schlafend im Sessel sitzen sehen, aber nicht versucht, ihn aufzuwecken. Vielmehr hatten sie nur das Licht gelöscht und waren nach oben zu Bett gegangen. Bailey erinnerte sich noch an den angewiderten Blick, den die beiden Polizisten ihrer Mutter zugeworfen hatten, als sie ihr mitteilten, ihr Mann sei bereits vierundzwanzig Stunden tot.
Bailey konnte sich auch erinnern, wie ihre Mutter einfach nur mit den Schultern gezuckt hatte. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihr Mann gut versichert gewesen war. Sein Ableben bedeutete also keinen entscheidenden Einschnitt in ihrem Lebensrhythmus. Genau genommen schien Bailey die Einzige zu sein, die ihn vermisste.
Heute jedoch war sich Bailey darüber im Klaren, dass sie nicht länger das kleine Mädchen sein wollte, dem sein Vater eingetrichtert hatte, es sei wie er, ein Mensch, der anderen die Kontrolle überlässt. Hatte ihr Vater ihr diese Dinge gesagt, weil er sich ebenso allein gefühlt hatte wie sie? Hatte er einen Verbündeten in seiner Kampagne des widerstandslosen Ausharrens gebraucht, damit er das Gefühl haben konnte, so sei es richtig?
Bailey versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Als sie heranwuchs, war die einzige Liebe, die ihr geschenkt wurde, von ihrem Väter gekommen, doch für diese Liebe hatte sie immerzu alles schlucken müssen. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich ihrer Mutter gegenüber zu behaupten, hatte sie zu ihrem Vater hinübergeschaut. Wenn sie seinen Blick auffing, der zu besagen schien, er würde sie nicht mehr lieben, wenn sie eine Kratzbürste wie ihre Mutter würde, hatte Bailey klein beigegeben.
Nur drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters war Bailey mit James Manville durchgebrannt, einem Mann, der noch dominanter war als ihre Mutter.
Also, überlegte sie, was soll ich jetzt tun? Es war gut und schön, die Vergangenheit zu analysieren, doch was wollte sie mit diesen Erkenntnissen anfangen ? Sie konnte weitermachen wie bisher und sich in Matthew Longacre auflösen, genauso wie sie zum Schatten ihres Vaters und Jimmys geworden war. Oder sollte sie einen radikalen Schritt tun - Matt aus dem Haus werfen und sagen, sie wolle erst einmal ihr eigenes Leben ins Reine bringen, bevor sie sich mit einem neuen Mann zusammentat? Würde sie dann klarer sehen, ob sie allein vor der Welt bestehen konnte?
Wohl kaum. Bailey wusste bereits, wie es da draußen in der großen, bösen Welt zuging. Und so viel Rebellion steckte nun auch wieder nicht in ihr, dass sie einen guten Mann wegwarf in der Hoffnung, später würde schon ein anderer auftauchen, wenn sie so weit war. Außerdem gehörte sie nicht zu der Sorte Frauen, die ihr Leben ohne einen Mann verbringen wollen. Viele hatten zwar schlechte Eigenschaften, aber sie konnten einen zum Lachen bringen, das war sicher! Nein, sie brauchte einen Mann in ihrem Leben, so viel stand fest.
Andererseits: Hatte sie sich nicht gerade deshalb so viel von Jimmy gefallen lassen, weil sie ihn so sehr brauchte?
Gefallen lassen, dachte sie. Wie hieß noch der alte Spruch? Was du dir gefallen lässt, das bekommst du auch. Sie hatte sich seine Affären gefallen lassen und ... die Pralinen. Und wieder gruben sich ihre Nägel in ihre Handflächen. Im Grunde machte sie die Erkenntnis, dass Jimmy ihr während ihrer Diät die Pralinen geschickt hatte und nicht seine dankbaren Kunden, wütender als die Affären.
Und dann der Mann von Heinz! Als sie daran zurückdachte, gruben sich ihre Nägel so tief in ihre Handflächen, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte.
Also schön. Blieben folgende Fragen: Was will ich mit meinem restlichen Leben anfangen? Will ich es so lassen wie bisher, oder will ich ein paar Veränderungen vornehmen? Will ich mich in diesem Mann, Matthew Longacre, vergraben, oder will ich versuchen herauszufinden, was ich zu Stande bringen kann? Nicht, indem ich mein Dasein als Schatten eines Mannes friste, sondern aus mir selbst heraus.
Die Veränderungen setzten sich einwandfrei durch. Was für Veränderungen sollen es denn nun
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