Sommerfalle
Sylver sahen sich die Aufzeichnungen des Sicherheitsdienstes noch einmal gemeinsam an und bemerkten dabei zwar eine Reihe verdächtig erscheinender Dinge, aber nichts, das auf eine Entführung schließen ließ. Sie gingen davon aus, dass der Typ, der diese große Puppe, die er wegtrug, bezahlt hatte. Doch sie hatten auch schon befürchtet, nichts zu finden. Die Kameras bewegten sich in festgelegten Routinen, und somit war es theoretisch möglich, den Parkplatz gezielt zu überqueren ohne dabei gefilmt zu werden.
Sarah erschien und saß eine halbe Stunde mit dem Zeichner des Phantombilds zusammen, bevor man sie zu Bill Lorenz und Mike Sylver schickte.
»Wir möchten alles nochmal mit Ihnen durchgehen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Officer Lorenz lächelnd.
Nach gerade mal zwanzig Minuten waren sie nach eigener Aussage fertig und wollten sie wieder nach Hause gehen lassen.
»Aber sollte ich mir denn nicht auch noch einmal die Aufzeichnungen des Sicherheitsdiensts ansehen?«, wandte sich Sarah hoffnungsvoll an Officer Lorenz.
»Wenn es Ihnen nicht zu viel ist. Denn das dauert schon eine ganze Weile.«
»Kein Problem.« Sarah setzte zu einem Lächeln an, als sie wieder an ihre Freundin Rebecca denken musste und unvermittelt in Tränen ausbrach. »Entschuldigung. Ich bin erst in diesem Jahr neu hierhergezogen, und wir wurden schnell beste Freundinnen.«
Der andere Polizist murmelte irgendetwas Tröstendes und führte sie zu dem kleinen Besprechungsraum mit den Glaswänden. Dort legte er das Band ein, das den vermuteten Zeitraum dokumentierte, und drückte ihr eine Fernbedienung in die Hand.
»Officer Lorenz sitzt gleich dort drüben«, er deutete hinaus, »und mein Schreibtisch steht direkt daneben. Halten Sie einfach das Bild an und rufen, wenn Sie etwas entdecken. Okay?« Sylver wartete noch ab, bis sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche gefischt hatte, klopfte ihr dann noch mal aufmunternd auf die Schulter und ließ sie allein.
Sarah nickte und sah kurz zu den besagten Schreibtischen hinüber. Dann startete sie das Video und wischte sich ein letztes Mal mit dem Taschentuch über die Augen.
Fast die ganze Nacht durch saß Josh vor einem Videospiel, ohne wirklich hinzusehen. Von Zeit zu Zeit kontrollierte er, ob sein Telefon noch voll aufgeladen war. Er fühlte sich schrecklich nutzlos. Es musste doch irgendetwas geben, was er tun konnte. Inzwischen war es zwei Uhr morgens.
Was würde Becca an seiner Stelle tun? Sie war klug, das wusste er. Sie schrieb auch die besseren Noten, ließ das aber nie raushängen. Wenn sie vor irgendeinem Perversen fliehen musste, dann würde sie das schaffen.
Er fuhr die Spielkonsole runter und betrachtete Beccas aktuelles Schulfoto. Da kam ihm eine Idee. Er kramte unter seinem Bett die Jahrbücher der Highschool hervor.
Josh begann mit dem Register der neunten Klasse und suchte dort nach ihrem Namen. Sie war nur auf zwei Seiten abgebildet, sehr süß sah sie aus in ihrem Leichtathletiktrikot.
Seine Freunde hatten allen möglichen Blödsinn in seine Jahrbücher geschrieben: codierte Geheimbotschaften oder Anspielungen auf Leute und Ereignisse, die er schon längst vergessen hatte. Auf einmal fragte er sich, ob ihr Entführer wohl ein Mitschüler war. In ihren Jahrbüchern fände sich vielleicht ein Hinweis, um herauszubekommen, wer es auf sie abgesehen hatte. Doch sogleich tadelte er sich selbst für eine so abwegige Vermutung.
Halb drei, drei Uhr, halb vier. Er las jede Kritzelei, von einem knappen »Viel Glück« und dem entsprechenden Namen bis hin zu kleinen Essays. Anschließend studierte er jedes männliche Gesicht und suchte nach vertrauten Namen. Interessant, dachte er, Mike Sylver war einer ihrer Klassenkameraden. Hieß nicht einer der Cops genauso? Das war ein seltsamer Zufall. Hatte dieser Mike irgendetwas damit zu tun?
Am Montag betrat Carolyn Randazzo das Lehrerzimmer in der Mittagspause und begrüßte die vier Kollegen, die dort über ihrem Essen aus der Cafeteria saßen. Sie selbst hatte sich ein Sandwich und Obst von zu Hause mitgebracht. Halb elf war eigentlich viel zu früh zum Mittagessen, aber eine Highschool war eben eine Welt für sich.
»Wo hast du denn gesteckt, Carolyn?«, fragte die Spanischlehrerin. »Wenn du noch mal zu spät zum Essen erscheinst, gibt’s einen Verweis.« Die anderen lachten.
Carolyn zog sich einen Stuhl heran. »Ich habe zehn Minuten darauf gewartet, dass dieser kleine Knallkopf Anthony D. zur Nachprüfung
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