Sommerfalle
vom Boden aufhob und auf den Nachttisch zurückstellte, fragte er sich, wie viel von dem Saft sie getrunken haben mochte, aber das spielte eigentlich gar keine Rolle mehr. Sie schien noch sehr müde und würde noch eine Weile weiterschlafen, dazu hätte eine geringe Menge des Schlafmittels gereicht, dessen war er sich ziemlich sicher.
Das Letzte, was Ed jetzt noch zu tun blieb, war, das Rollo hochzuziehen und das Fenster einen Spalt zu öffnen. Würde ein normaler Mensch sich zum Schlafen nicht ein wenig frische Luft wünschen? Schließlich schaltete er das Licht in Beccas Zimmer wieder aus und schloss ihre Tür. Auch die Flurlampe machte er aus, ging dann nach draußen. Von dort spähte er durch ihr Fenster. Falls sie nicht eine Taschenlampe benutzten, genügte auch das Licht des Sternenhimmels, um dort jemand liegen zu sehen. In Eds Augen sah diese Person eindeutig nicht wie Becca aus.
Niemand, der hier hereinblickte, würde sie erkennen.
Edward verzog sich in den Wald, um sich einen geeigneten Platz zu suchen, von dem aus er alles beobachten konnte.
Neuropsychologische Tests und Rehabilitation, Psychotherapie, Hirntraumata, Lernstörungen, Demenz, Schlaganfall, persönliche und familienbezogene Verarbeitung von Verlusten. All diese Stichworte fand man auf der Homepage von Dr. Kristin Darr. Rebecca war der Meinung, auf sie träfe die »persönliche Verarbeitung eines Verlusts« zu. Dem konnte Dr. Darr zustimmen.
Rebecca saß vor ihrem dritten Termin in dem winzigen Wartezimmer, sie war zehn Minuten zu früh dran. Die Praxishelferin hatte ihr Kaffee oder Saft angeboten, doch Rebecca lehnte dankend ab. Sie aß lieber ein paar von den Bonbons, die in einer Schale neben einem Dutzend Zeitschriften lagen. Sie blätterte durch eine Ausgabe des Magazins People, ohne auch nur eine einzige Überschrift zu lesen.
Um Punkt vier Uhr öffnete sich die Tür des Sprechzimmers, und Dr. Darr begrüßte Rebecca.
»Wie geht es dir, Rebecca? Du siehst gut aus heute«, sagte sie und hielt ihr die Tür auf. Das Sprechzimmer war hell und farbenfroh eingerichtet, sicher um die Stimmung zu heben. Es gab noch eine zweite Tür, die von hier direkt auf den Flur hinaus führte, sodass man dem nächsten Patienten nicht begegnen musste.
»Danke. Mir geht es gut. Und Ihnen?«, fragte Rebecca und nahm auf einem Stuhl am Fenster Platz. Bei ihrem ersten Termin hatte sie die meiste Zeit über stur aus diesem Fenster gestarrt. Dr. Darr hatte sich währenddessen reichlich Notizen gemacht. Beim zweiten Mal war es ihr schon gelungen, ihre Aufmerksamkeit innerhalb des Raums zu halten und immer häufiger Blickkontakt aufzunehmen. Die Ärztin hatte ihr beide Male Hausaufgaben aufgegeben. Zusätzlich hatte Rebecca ihren Vorschlag ernst genommen und in den letzten zwei Wochen täglich etwas über ihren Gefühlszustand aufgeschrieben. Jetzt holte sie diese Aufzeichnungen und Eds Tagebuch aus ihrer Tasche und legte sich beides in den Schoß.
»Gut. Und jetzt«, begann die Ärztin, »lass uns noch mal kurz diese Schuldfrage ansprechen, bevor wir uns mit deinen Aufzeichnungen beschäftigen.«
Rebecca nickte.
»Denkst du immer noch, dass alles, was passiert ist, vor allem die Ereignisse ganz zum Schluss, allein deine Schuld waren?«
Mike parkte den Wagen. Die Scheinwerfer hatte er bereits ausgeschaltet, als sie von der Hauptstraße abgebogen waren. Leise kletterte er aus dem Fenster und ging dann um das Auto herum, um Josh auf seiner Seite herauszuhelfen. Josh wirkte nicht wirklich stabiler als bei ihrem Aufbruch im Krankenhaus, Mike machte sich Sorgen um ihn.
Nebeneinander gingen sie die unbefestigte Straße hinunter.
Rebecca wachte hustend auf. Sie drehte sich auf die Seite, spuckte aus. Die langen dunklen Haare fielen nach vorn, sie schlug nach ihnen, als hätte ein pelziges Tier sie angefallen. Mit einem Griff riss sie sich die Perücke vom Kopf und schleuderte sie durchs Zimmer. Was passierte hier?
Licht, Geräusche und Gerüche drangen durchs offene Fenster herein. Jemand musste im Zimmer gewesen sein! Sie sprang auf und stolperte auf dem Weg zum Fenster über den Rucksack. Sie hatte es eigentlich schließen wollen, doch jetzt packte sie sich nur den Rucksack und eilte zur Tür. Die war nicht mehr abgeschlossen!
Sie musste jetzt vorsichtig sein. Rebecca war sich sicher, dass Mike im Haus gewesen war. Aber was war mit Ed? Mike hatte ihm sicher etwas angetan!
Sie fühlte sich wie benommen, und ihr Mund war trocken. Sie überlegte fieberhaft.
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