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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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und eine leise Stimme:
Eliza, Eliza, deine Mutter braucht dich.
    Sie klang so echt, als gäbe es sie wirklich!
    Als sie am nächsten Tag nachgeschaut hatte, hatte sie Kratzer am Metallgitter entdeckt – als hätte jemand versucht, es mit einem Messer aufzuschlitzen. Sie hatte sie sogar ihrem Dad gezeigt. Er hatte sie in Augenschein genommen und gemeint, das sei lediglich Verschleiß, Zweige, die bei Sturm und heftigen Nordostwinden an der Hauswand entlangscharrten. Natürlich dachte er, dass sie sich das Ganze nur einbildete.
Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge
, dachte Eliza.
Ich glaube ja selber schon, dass ich unter Halluzinationen leide
. Genau wie bei dem Hirtenjungen, der ständig schrie, der Wolf kommt – so dass ihm niemand mehr glaubte, als er tatsächlich auftauchte. Und der größte Teil von Elizas Leben war ein einziger großer Hilfeschrei gewesen.
    Einiges hatte geholfen. Annie beispielsweise. Tage, an denen die Sonne schien. Neue Kleider, zumindest kurzfristig. So kurzfristig, dass sie sich fragte: Warum überhaupt Geld dafür ausgeben?
    Ohrringe gehörten ebenfalls dazu, und noch mehr Piercings. Ein kleiner schmerzhafter Stich, ein weiteres Loch in der Haut, um den Druck in ihrem Inneren herauszulassen.
    Hungern war gut. Und so real. Der Körper war ziemlich einfältig, genau genommen. Er war darauf programmiert, Hunger zu empfinden, auch wenn er in Wirklichkeit keine Nahrung benötigte. Zeigte man ihm beispielsweise ein Sandwich mit Schinken, lief einem das Wasser im Mund zusammen. Das Gleiche galt für Schokoriegel, wobei Elizas Körper solche mit Mandeln bevorzugte.
    Das Verrückte daran war: Andere Körper gierten nach Erdnüssen oder Kokosnuss. Körper waren sehr individuell, was ihren Appetit betraf. Annie hatte beispielsweise ständig mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Inzwischen hatte sie ihre Heißhungerattacken ein wenig unter Kontrolle, wie sie im letzten Telefongespräch anklingen ließ, und ihr Körperumfang begann allmählich zu schrumpfen.
    Für Eliza war das Leben ein fortwährender Kampf. Sie fühlte sich wie eine Arbeiterin in einem Kernkraftwerk: Es galt, den Druck konstant zu halten, ihn zuerst aufzubauen, und wenn er das obere Ende der Skala erreichte, musste man das Ventil aufdrehen und Druck ablassen.
    Genau das tat Eliza durch Hungern und Schneiden. Durch Hungern baute sich Druck auf, bis die Muskeln nach Vitaminen und Nährstoffen schrien, und durch das Schneiden ließ sie diese Schreie aus ihrem Organismus heraus, in den Himmel hinaufsteigen.
    Ihr Dad war draußen auf der Werft und Eliza im Schuppen; sie saß am Schreibtisch, wo sie am liebsten ihrer Arbeit nachging: Schneiden.
    Sie nannte ihn »Großväter-Schreibtisch«, weil er von einem Großvater für den anderen gebaut worden war. Die Geschichte war indes nicht ganz so wie die von Annie über die heiß geliebten Grannys. Bei den Großvätern war es ums Geschäft gegangen, nicht um Freundschaft: Die Familie ihrer Mutter hatte Geld im Überfluss besessen, und Obadiah Day, ihr Großvater mütterlicherseits, hatte Michael Connolly, einen armen irischen Einwanderer und ihren Großvater väterlicherseits, beauftragt, den Schreibtisch zu zimmern und zu schnitzen.
    Er war prachtvoll, aus Mahagoni, verziert mit Meerjungfrauen, Kammmuscheln, Fischen, Seepferdchen, Meeresungeheuern und dem Gott Poseidon. Als kleines Mädchen hatte Eliza herrliche Träume von Meerjungfrauen und Seepferdchen gehabt. Inzwischen litt sie unter Albträumen, in denen Meeresungeheuer vorkamen.
    Sie saß am Schreibtisch und holte langsam und ehrfürchtig das Messer aus seinem Versteck in ihrer Socke. Ihr Puls beschleunigte sich vor Erregung. In ihrer Kehle brannten ungeweinte Tränen. Manchmal dachte sie, wenn sie weinen könnte, müsste sie sich nicht schneiden; ihr Körper würde auf normale Weise Tränen vergießen können.
    Sie ließ die Finger über die geschnitzte Oberfläche des Schreibtisches gleiten und fragte sich, ob auf diesem Möbelstück ein Fluch lastete. Hätte ihre Familie überhaupt jemals existiert, wenn der eine Großvater nicht den anderen beauftragt hätte, ihn zu bauen und zu verzieren?
    Wäre ihre Mutter ihrem Vater begegnet?
    Sie wünschte sich oft, alle diese Dinge wären niemals geschehen. Das war einer der Gründe, weshalb sie gerne in Banquo, in der Klinik, war, es als Sanktuarium empfand – wenn auch eines, das zugesperrt wurde, Kopfkissen mit harten Kunststoffbezügen hatte und für ihren Geschmack zu viele Ärzte und

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