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Sommerglück

Sommerglück

Titel: Sommerglück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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respektierte Elizas Entscheidung. Die Mädchen erledigten ihre Hausaufgaben – Eliza auf dem Bett, Annie am Schreibtisch. Die Hausaufgabe in Französisch war sehr schwer, aber auch schön, weil die Sprache wie Musik klang … Im Französischunterricht fühlte sich Annie grazil und schick, kess und knabenhaft, die Art Mädchen, die ihr Vater hübsch gefunden hätte.
    Annie saß an ihrem Schreibtisch und flüsterte den Dialog vor sich hin, bezaubert vom Klang der Worte, und selig, dass ihre Freundin bei ihr war. Dadurch vermisste sie ihren Vater weniger schmerzlich. »Du kannst ruhig laut lesen«, kam Elizas Stimme vom Bett.
    »Ich wollte dich nicht bei deiner Englisch-Hausaufgabe stören.«
    »Keine Bange. Wir nehmen gerade Dickens durch –
Große Erwartungen
. Ich kann den Text in- und auswendig. Einige von uns führen ein Leben wie bei Dickens … vor allem, wenn er über Waisen und Tragödien schreibt …« Sie seufzte und kratzte sich am Arm, was in Annie den Wunsch weckte, einen Blick unter ihren Ärmel zu werfen, um zu sehen, ob es dort neue Narben gab. »Mein Leben ist leider ein riesiges Kapitel aus einem Dickens-Roman«, fuhr sie fort. »Mit Kobolden und ausgegrabenen Schädeln und Hunger und schmutzigen Straßen und Bösewichtern, die auf dem Dach stehen und schlafenden Mädchen etwas zuflüstern … also bitte, nur zu: Lies mir deine Französisch-Lektion vor.«
    »Was für Bösewichter?«
    »Menschen, die mich VERFOLGEN .« Eliza fletschte die Zähne und formte ihre Hände zu Klauen. » MONSTER  …«
    »Wirklich?« Annie überkam ein wohliges Schaudern bei einem so fantasievollen Spiel.
    »Ja … auf Schritt und Tritt. Ich spüre, dass sie da sind, aber wenn ich über meine Schulter spähe, sind sie VERSCHWUNDEN . Nur um in der Nacht zurückzukehren …«
    »Was tun sie nachts?«
    »Sie rufen mich – ›Eliza, deine Mutter braucht dich.‹«
    »Ich wünschte, mein Vater würde mich rufen.«
    »Es ist nicht meine Mutter. Sondern nur mein verrückter Kopf«, flüsterte Eliza.
    »Du bist nicht verrückt.«
    »Manchmal fürchte ich, doch.« Dann lächelte Eliza. »Es ist aber nicht schlimm, sondern vielmehr eine gute Möglichkeit, Kontakt zu den Menschen herzustellen, die man geliebt hat … Weißt du, gestern Nacht hatte ich ein Gespräch mit den zwei Großmüttern, denen ich erzählte, dass wir beide die besten, frischgebackenen Freundinnen von Hubbard’s Point sind. Hey, vielleicht ist es ja eine von den beiden, die mich an meinem Fenster ruft!«
    »Möglich wär’s.« In Annies Kopf drehte sich alles, wie so oft, wenn Eliza loslegte – wie es wohl in ihrem Kopf AUSSEHEN mochte? Und so las sie ihren Dialog vor, wobei ihre Aussprache zunehmend besser wurde, weil sie es herrlich fand, dass sie eine Zuhörerin hatte, eine Freundin, eine Schicksalsgenossin im Rettungsboot.
     
    Ein wenig später endete der Film, und ein neuer begann.
    Nach den Hausaufgaben, als die beiden Mädchen beschlossen, das Mittagessen einzupacken und am Little Beach ein Picknick zu machen – damit Eliza, wen hätte es überrascht, sich seiner unterwegs entledigen konnte –, bemerkte Eliza den schwarzen Wagen, der ihnen folgte.
    »Aha, Polizei«, sagte sie.
    »Mmm.« Annie runzelte verlegen die Stirn.
    »Wollen sie deinem Dad etwas anhängen?«
    »Mmm.« Annies Schulter sackten noch mehr zusammen.
    »Du brauchst dich nicht zu schämen. Dein Dad war also nicht perfekt. Wer ist das schon?«
    Annie brachte zunächst keinen Ton heraus. Sie sah zu, wie der kennzeichenlose Wagen langsam vorbeifuhr, wie ein Hai auf Rädern: schwarzer Wagen, weißer Tod. »Ich dachte aber, er
wäre
es«, erwiderte Annie kläglich.
    »Ich weiß, Annie. Das dachte ich von meiner Mutter auch.«
    »Wann hast du herausgefunden, dass sie es nicht war?«
    Eliza musterte Annie verstohlen, während sie weitergingen, als versuchte sie zu entscheiden, ob sie ihr vertrauen konnte.
    »Was immer sie getan hat, es kann nicht so schlimm gewesen sein wie bei meinem Dad.«
    Die beiden Mädchen gingen den Weg zum Strand hinunter, weg von der Promenade, die ihre noch lebenden Elternteile errichtet hatten. Als sie den steinigen Saumpfad am Fuße des mit Kiefern und Zedern bewachsenen Hügels erreichten, legte Eliza den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.
    »Was ist denn das?«, fragte sie.
    »Der Weg zum Little Beach.« Sie erwartete halb, dass Eliza – in ihrem langen, eng anliegenden Spandex-Kleid und den Schuhen mit Plateausohlen – protestieren

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