Sommerglück
ausfindig gemacht. Alles in Ordnung bei dir?«
»Ähm …« Annies Augen schweiften zur Kühlschranktür. Bei den meisten Leuten wäre sie nie auf die Idee gekommen, die Wahrheit zu sagen. Aber irgendetwas weckte in ihr den Wunsch, Eliza zu gestehen:
Ich denke, mein Vater wurde ermordet, und ich wollte gerade einen Kübel Pfirsich-Eiscreme in mich hineinstopfen
; sie hatte das Gefühl, dass Eliza sie verstehen würde. Aber stattdessen erwiderte sie: »Ich glaube schon.«
»Ich glaube nicht. Ich weiß, was sie sich über deinen Dad erzählen.«
»Wirklich?«
»Ja. Du musst nicht mit mir darüber reden, aber ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich ist.«
Beide schwiegen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Eliza. »Das kommt alles viel zu plötzlich.«
»Ich vermisse ihn.« Annies Augen füllten sich mit Tränen. »Ich vermisse ihn so sehr; wenn er hier wäre, würde ich sogar Basketball mit ihm üben. Und dabei hasse ich es …«
»Wenn du dich besser fühlst … nach einiger Zeit …«, begann Eliza.
Annie hätte um ein Haar aufgelegt; sie wollte nicht hören, dass sie sich JEMALS besser fühlen, dass sie ihren Vater irgendwann weniger vermissen könnte. Doch das spontane Vertrauen, das sie in Elizas Gegenwart empfunden hatte, half ihr, den Drang zu überwinden; sie atmete tief durch und hörte schweigend zu.
»Wenn du dich besser fühlst, kannst du daran denken, wie gut es ihm dort geht, wo er sich jetzt befindet«, fuhr Eliza fort.
»Wo er sich jetzt befindet?«, fragte Annie verständnislos und dachte an den Friedhof, den Grabstein mit seinem Namen: Sean Thomas McCabe, und danach kamen das Geburts- und Todesdatum und eine Zeile aus dem Gedicht, das sie in der Kapelle vorgetragen hatte:
Versprechen darf man nicht brechen …
»Ja«, sagte Eliza. »Dort ist es unvorstellbar schön …«
»Ich wünschte, es wäre wahr.« Tränen sammelten sich in Annies Augen.
»Aber es ist wahr! Ich weiß es, ganz sicher!«
»Woher denn?«
Nun war es an Eliza, zu verstummen. Sie atmete tief ein und aus, und Annie hörte den Rhythmus so deutlich, als hätte Eliza ihre Lippen auf die Sprechmuschel gepresst. Annie schloss die Augen, atmete im Gleichtakt mit Eliza.
»Das erzähle ich dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen«, flüsterte Eliza.
»Und wann –«
»Wann das sein wird? Gute Frage. Wenn wir näher beieinander wohnen würden, käme ich mit dem Fahrrad zu dir. Habt ihr ein Boot?«
»Mein Vater hat – hatte – eins; warum?«
»Weil Mystic am Wasser liegt und euer Haus auch …« Sie kicherte. »Wir könnten pendeln.«
Annie lachte und stellte sich vor, wie sie beide durch den Long Island Sound hin und her düsten, um sich gegenseitig zu besuchen. »Hast du denn ein Boot?«, fragte sie.
»Sollte man eigentlich meinen. In Anbetracht der Tatsache, dass mein Vater Bootsbauer und seine Firma nach mir benannt ist … ich meine, nach meiner Großmutter … aber wir haben den gleichen Namen … das ist eine lange Geschichte.«
»Ich möchte sie unbedingt hören.«
»Das könntest du auch, wenn eine von uns ein BOOT besäße! Ich würde dir die Geschichte erzählen und etwas über unsere fehlenden Elternteile …«
Annie zuckte zusammen, aber weniger als vorher; sie gewöhnte sich im Gespräch mit Eliza langsam an die Vorstellung, dass ihr Vater tot war. Das Wort
Mord
löste nicht mehr so viel Wut aus, wenn sie daran dachte.
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte Eliza. »So oder so. Ich werde meinen Vater beknien, mich zu dir zu fahren. Oder deine Mutter, dich herzubringen.«
»Ja!« Annie war fast aufgeregt vor Vorfreude.
»Das ist eine richtige Obsession!«
»Eine was?«
»Das ist ein Wort, das ich in der Klapse aufgeschnappt habe. Es bedeutet, dass man ständig an etwas denken muss.«
»Aha«, sagte Annie. Sie verstand nicht ganz, was mit der »Klapse« gemeint war, wohl aber, was »ständig an etwas denken« bedeutete. Sie musste ständig an ihren Vater und an ihre Familie denken, so wie sie früher gewesen war. Und daran, dass er versprochen hatte, ihr kleines Boot auf Schritt und Tritt mitzunehmen.
Eliza hörte schweigend zu, während Annie schluckte und schluckte, während die Tränen ihre Kehle hinunterrannen. Sie weinte, als sie an all die Dinge dachte, die ihr im Kopf herumgingen, an all die Liebe, die sie für ihre Familie empfand, und wie schmerzlich dieses Gefühl war. Obwohl es ihr ein bisschen besser ging, als sie den Hörer in der Hand hielt und ihn fest ans Ohr
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