Sommerhit: Roman (German Edition)
Klub, an die Zementwand gelehnt, küssten wir uns dann. Danas Zunge drängte in meinen Mund, als wäre mein Rachen Neuland, das ein Landvermessungskollektiv soeben erforschte, und in nur kurzer Zeit hatte ich sehr viel von ihrem Speichel in meinem Mund, aber ich fand es trotzdem aufregend. Noch tage-, wochenlang dachte ich an diesen Abend, an Danas Duft nach intensiver Seife, einem leicht holzigen Aroma, und ihrem irgendwie süßlichen Schweiß, an den Geschmack ihrer pfefferminzigen Spucke und das unerwartete Gefühl, das ihre Zunge in meinem Mund ausgelöst hatte. Ich war vielleicht nicht verliebt, es war mehr eine Ahnung davon, ein seltsamer Schwebezustand, der mich noch nicht recht einordnen ließ, worum es sich bei dem handelte, wovon ich gerade erstmals gekostet hatte.
Jetzt bemerkte ich, dass Karen mich ansah. Sie zog ihren Kopfhörer über die Haare und hielt ihn mir entgegen.
»Willst du auch mal?«, fragte sie in das laute Lachen ihres Vaters hinein, der sich wieder mal erhob, um die Gefährlichkeit der Sitzgelegenheit zu unterstreichen.
Ich nickte. Sie gab mir den Hörer und das Gerät, das ich behutsam in meinen Schoß legte. Das Plastegestell mit den beiden Schaumgummiaufsätzen gab Apfelshampooaroma von sich.
»Vorsicht. Ist sehr laut.«
Karen rollte das R und betonte das E auf eine Weise, die ich ungewöhnlich, aber zutiefst angenehm fand – ein bisschen erinnerte mich das rollende R an Russisch. Ich kannte den Dialekt nicht, den sie sprach, aber ich hatte ihn schon bei ihren Eltern gehört, allerdings redete Manfred – Susanne sagte kaum etwas – so schnell, dass es einen verwaschenen und nicht immer verständlichen Brei ergab, auf den man sich sehr konzentrierenmusste. Ich sprach selbst keinen Dialekt; Klaus-Peter und Luise stammten aus einem Ort südlich von Berlin und hatten mir nie einen beigebracht.
Laut war es tatsächlich, als ich den Hörer aufsetzte. Ich hatte keine Ahnung, was da für Musik lief, es begann mit einem schnarrenden Schlagzeug, das einen simplen, treibenden Takt spielte, begleitet von einer Rhythmusgitarre, und dann setzte etwas ein, das wie eine Panflöte klang, aber auf artifizielle Art. Von Frauenstimmen beherrschter Chorgesang begann, aber ich meinte, mindestens eine Männerstimme herauszuhören; sie sangen etwas wie »Die Ei Ess Ssie Oh«, das sie ständig wiederholten, aber ich achtete nicht so sehr darauf oder das merkwürdig hohle »Oh«, sondern hauptsächlich auf den unglaublichen Klang. Noch niemals hatte ich Musik in so fantastischer Qualität gehört. Ich starrte auf die sich drehenden weißen Zahnräder, das dunkelbraune, schmale Band, das von einer Rolle zur anderen transportiert wurde, und hielt das Ganze für nichts weniger als ein legitimes Wunder. Natürlich gab es Cassettenabspielgeräte auch in der DDR, meine wenigen Freunde – zwei, um genau zu sein – besaßen jeweils eins, mono und ohne Kopfhörer. Aber zwischen diesen klobigen, knarzenden Elektromonstren und dem filigranen, wuchtigen Klang erzeugenden Ding auf meinem Schoß lagen mehr als Welten. Das Lied endete, dann setzte ein Klavier ein, spielte eine Melodie, die mir auf Anhieb gefiel, zu der sich eine Männerstimme gesellte, natürlich eine englische, die volltönend und jugendlich zugleich war. Ich verstand nichts, begriff kein einziges Wort des Textes, und dennoch empfand ich in diesem Augenblick ein tiefes, beglückendes Gefühl des Berührtwerdens, ahnte, wovon dieser Mann sang, nämlich von Einsamkeit, Melancholie, einer gewissen Wut – und von der Liebe zur Musik. Es war ein kathartischer Moment, in dem ich den unverrückbaren Wunsch verspürte, genau
das
, was der Sänger da tat, auch zu können.
Jemand tippte mir auf die Schulter; ich hätte noch tagelang lauschen können, zog jetzt aber die nach Sonja duftenden Kopfhörer ab.
»Wer ist das?«, fragte ich.
Karen hielt sich eine Kopfhörerhälfte ans Ohr; eine Geste, deren Intimität mich kurz erschaudern ließ.
»Billy Joel. ›Piano Man‹.«
»Billieh Dschoh Ell, ›Pjano Menn‹«, wiederholte ich. Karen kicherte.
»So ähnlich, ja.«
»Das ist schön.«
Sie nickte. »Das ist mein Lieblingssong. Und das davor war Ottawan, ›D.I.S.C.O.‹, das ist
der
Sommerhit in diesem Jahr.«
Ich öffnete den Mund (Ottahuan?), schloss ihn aber gleich wieder.
Karen lachte. »Ihr Ostdeutschen seid schon seltsam.«
Ostdeutsche. Wieder so ein Wort.
»Sind hier viele … DDR-Bürger?«
Sie ließ den Blick kurz über den Platz
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