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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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schauerlichen Moment, als die Grenzsoldaten Sonja weggeführt hatten. Natürlich gab es Umstände, die ich weniger mochte, aber ich nahm an, dass Tobi, Hans, Sabine und Karen auch nicht unbedingt gerne täglich in die Schule gingen oder Hausaufgaben machten oder zur Kirche liefen – oder eine von den anderen Tätigkeiten absolvierten, die zum Alltag der BRD-Bürger gehörten, aber nicht zu denangenehmeren Aspekten. In die Kirche zum Beispiel ging keiner von den Lutters, obwohl wir so hießen. Aber die Ähnlichkeit war ja auch nur phonetisch.
     
    Am späten Vormittag kam ich endlich dazu, das Schlauchboot aufzublasen, was mich für eine gute Viertelstunde permanent einem energischen Brechreiz aussetzte. Die Restluft in dem Boot, das nach meinem Dafürhalten schon seit mindestens zwei, drei Jahren nicht mehr benutzt worden war, stank und schmeckte so unglaublich übel, dass es meinen Geruchssinn vollständig überforderte. Trotzdem war es nach einer Viertelstunde nicht einmal zur Hälfte voll.
    »Warte mal«, sagte der schlaksige Tobi schließlich grinsend, erhob sich, lief davon und kehrte wenige Minuten später mit einem Blasebalg zurück, der fast exakt so roch wie Karens Luftmatratze.
    Ich war kaum einen Tag am Plattensee, hatte bisher ausschließlich Westdeutsche getroffen, aber keine von den Eigenschaften, über die Herr Kosczyk im Staatsbürgerkundeunterricht schwadroniert hatte, schien zuzutreffen. Mir war bewusst, dass hier alle im Urlaub waren, in einer besonderen Situation, aber von dieser gierigen Feindseligkeit, die vom Profitstreben und dem Wunsch, die Arbeiterklasse zu unterdrücken, beherrscht wurde und die angeblich alles andere überdeckte, spürte ich wenig. Gut, dies hier waren Jugendliche, junge Menschen, die noch nicht bis zum Hals in der Aufgabe steckten, sich ihrer Konkurrenz zu erwehren, aber auf meine Frage, was sie später werden wollten, hatten sie auch keine Antworten gegeben, die in diese Richtung gingen. Tobi war von Computern, von Datenverarbeitungsanlagen fasziniert und wollte Informatik studieren, ein Wissensgebiet, von dem ich noch nie gehört hatte, für das es bei uns vielleicht aber auch nur einen anderen Namen gab, wie für so vieles. Hans träumtedavon, Lehrer zu werden, Sabine Schauspielerin, was ich für hoffnungslos hielt, oder sie war bereits so gut darin, dass sie es schaffte, jemanden zu spielen, der keine Chancen hatte, jemals Schauspieler zu werden. Karen interessierte sich für Biologie, sie wusste nur noch nicht so recht, ob sie etwas daraus machen wollte. Als sie mich fragte, was meine Pläne wären, musste ich mir eingestehen, keine zu haben. Aber ich war ja auch erst vierzehn. Ich liebte Musik, schon seit meinem siebten Lebensjahr konnte ich exzellent Noten lesen, wobei mich immer noch verblüffte, dass es Menschen gab, denen das schwerfiel – für mich waren Noten so transparent und einfach zu verstehen wie der Zusammenhang zwischen Sonne, blauem Himmel und dem Gefühl von Wärme auf der Haut. Ich beherrschte ein paar Akkorde auf der Gitarre, besaß aber keine, doch Papa hatte angedeutet, dass sich in dieser Hinsicht möglicherweise kurzfristig – also im Oktober, zu meinem fünfzehnten Geburtstag – etwas tun würde. Ich verfügte, wie mir Frau Sindermann, meine Musiklehrerin, bestätigt hatte, über eine recht gute, wenn auch nicht besonders starke Gesangsstimme, die sich auch über den Stimmbruch hinweg gehalten hatte, aber außerhalb des Musikunterrichts und der heimischen Badewanne hatte ich mich noch nie gesanglich betätigt.
    »Vielleicht Musiker«, sagte ich deshalb, eher scherzhaft, aber vielleicht nicht nur scherzhaft, denn ich dachte dabei an Billieh Dschoh Ell und das Gefühl, das mich beim Hören seines Liedes durchströmt hatte. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, dieses Gefühl auch wecken zu können. Die anderen nickten, als wäre das ein völlig alltäglicher Beruf. In der DDR war es das jedenfalls nicht – die Hürden waren hoch, und früher oder später würde ich in die Partei eintreten müssen, um sie zu überwinden. Nicht, dass mich dieser Schritt beunruhigte, schließlich taten das viele, aber ich verstand damals nicht so recht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.
     
    »Cooles Boot«, sagte Hans schließlich, als ich den Stöpsel verschraubte. Es war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte. An diesen Moment würde ich mich noch jahrzehntelang erinnern, aber das wusste ich jetzt natürlich nicht.
    »Kuhl?«, fragte ich und

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