Sommerhit: Roman (German Edition)
Hintergrund hielt, war es vor allem ein fieser, rattengesichtiger Typ namens Thomas, dem es leichtfiel, den Rest anzustacheln. Thomas war etwas zu kurz geraten, hatte einen kompakten Oberkörper und dunkle, engstehende Augen, was ihn eigentlich eher für unsere Tischseite prädestiniert hätte, aber er war ein Springquell böser Ideen und dazu noch ein enormes Redetalent. Solchen Typen begegnete ich später immer wieder, meist in mittleren Managementpositionen von Plattenfirmen, Konzertveranstaltern, Rundfunkstationen und Musikverlagen, aber nie in der Führungsetage. Keiner mochte sie wirklich, Gespräche verstummten, wenn sie sich näherten, und trotzdem wollten alle von ihrer Kreativität und Überzeugungsfähigkeit profitieren. Letztlich war es Thomas, der das Triumvirat zusammenschmiedete und in unserer Klasse neue Gräben für Kämpfe aushob und die bereits bestehenden noch weitaus tiefer ausschachtete. Er wohnte als einziger Schüler nicht in Wilmersdorf oder Schöneberg, sondern reiste jeden Morgen lange mit U-Bahn und Bus an, aus Neukölln, wo er mit seiner alleinerziehenden Mutter in der Nähe der Wilhelm-Reuss-Lebensmittelfabrik lebte, irgendwo zwischen Grenz- und Sonnenallee. Dort roch es intensiv nach den Kakao-Unmengen, die im Reuss-Werk verarbeitet wurden. Für mich hatte das den Vorteil, Thomas’ Annäherung immer recht früh zu spüren, zu riechen, aber dieser Vorteil zahlte sich nur selten aus. Wenn ich dieses leichte, ölig-zuckrige Schokoladenaroma wahrnahm, war es immer schon zu spät, denn sein Ruf und seine fiesen Ideen eilten ihm meilenweit voraus.
Der Kreis um Gerry, Henning und Thomas wurde rasch größer, aus dem simplen Grund, dass es besser war, zu ihnen, als zu einer anderen Gruppe zu gehören. Die Mädchen, auch wenn sie sehr viel harmoniesüchtiger waren und sich nicht gerade untereinander beharkten, orientierten sich entsprechend. Nicht nur
die Sabines drei
badeten in ihrem Fahrwasser, auch einige der Hübscheren – darunter Christine –, die es eigentlich nicht nötig gehabt hätten, sich dieser Terrorzelle unterzuordnen, waren früher oder später immer dabei.
Obwohl es in den Nachbarklassen ähnliche Tendenzen zu geben schien, erreichten die dortigen Strukturen nie die Qualität, die unsere hatten. So genossen wir bald alle an der gesamten Schule einen wirklich üblen Ruf, ganz egal, ob man nun zu den Tätern oder Opfern gehörte. Erstaunlicherweise war es der sich stets einschleimende Herr Bährmann, der diese Struktur noch förderte und die Protagonisten während der Treffen in seiner Wohnung, die immer mehr zu verschwörerischen Partys wurden, stärker aufeinander einschwor. »Gruppen sind stärker als der Einzelne«, erklärte er und sah dabei jeden in der Runde an. »
Seid
eine Gruppe. Dann könnt ihr alles erreichen.«
Und über all dem schwang dieser Anglizismus, dieses Wort, das ich in Ungarn zuerst und hier, im Westen, immer wieder gehört hatte:
Cool
. Es bedeutete nämlich längst nicht nur:
gut, besonders, irgendwie entspannt
, wie mir Tobi seinerzeit erklärt hatte, sondern, viel mehr als das, auch: lässig, fast emotionslos, abgebrüht, nüchtern-berechnend und sogar grausam – und es entwickelte sich nach und nach zu einer Art Lebensgefühl. Meine neuen Klassenkameraden benutzten das Wort beinahe pausenlos, und dann immer nur in diesen Bedeutungen, es sei denn, es ging um Kleidung, besonders um
Sneakers
, wie sie Turnschuhe nannten. Insbesondere die Jungs legten großen Wert darauf, jederzeit
coole
Turnschuhe zu tragen.Was cool war, wechselte allerdings häufig, denn die Coolness der Marken generierte sich über die Coolness ihrer prominenten Werbeträger, was einen ständigen Konkurrenzkampf der Hersteller zur Folge hatte, bei dem sie um die Gunst der coolen Stars und Sternchen buhlten. Mich amüsierte das. Davon abgesehen trug ich Turnschuhe nur beim Schulsport.
In der ersten Zeit nahm ich das Gruppenverhalten eher belustigt zur Kenntnis, weil ich zu viel damit zu tun hatte, meine Lerndefizite auszugleichen und mich in dieser bunten, lauten, komplizierten, aber auch nach und nach spannender werdenden Welt zurechtzufinden. Und irgendwann schätzte ich mich glücklich, einfach zu uninteressant für die ständigen, bösartigen Neckereien zu sein. Ich versuchte, möglichst gelassen zu reagieren, und bemühte mich mitzulachen, wenn sie mich verspotteten, weshalb sie das Interesse irgendwann verloren. Ich hatte einfach keine andere Chance. Dazugehören würde
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