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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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zuvor.
    Beim Dessert, seinem ersten Mousse au Chocolat, legte er plötzlich den schweren Löffel beiseite. An seiner blassen Oberlippe hing ein Tupfer Nachtisch.
    »Es war ein Fehler.« Er sagte es, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, und er sah mich dabei an, als erginge es mir ebenso.
    »Wir hätten zurückkehren sollen, in die DDR, wir alle«, ergänzte mein Vater.
    »Man weiß nicht, ob etwas ein Fehler war, wenn man nie die Gelegenheit hatte, die Alternative auszuprobieren«, erwiderte ich, Mama deutete ein Nicken an.
    »Aber – schau, was daraus geworden ist. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, nichts voneinander gewusst, Sonja ist verschwunden, meine ehemaligen Freunde sind weg.«
    »Es wäre kein sehr schönes Leben geworden. Vielleicht hätten sie uns getrennt. Ziemlich sicher sogar.«
    »Wir hätten diese neun Jahre überstanden.«
    »Wir hätten nicht
gewusst
, dass es nur noch neun Jahre gehen würde.«
    Er schnaufte. Ich verstand, dass er darüber sprechen musste. Ich hatte es nicht anders erwartet, aber ich verstand nicht, worauf er hinauswollte. Um Absolution konnte es nicht gehen, die würde er von mir nicht erhalten, weil es nicht seine verdammte Schuld war.
    »Der alte Leder, dieses Schwein.«
    »Wäre es nicht Leder gewesen, wäre es ein anderer gewesen. Und auch Leder war nur ein Handlanger, ein kleines Rädchen, jemand, der sich etwas mehr Bequemlichkeit erhofft hat.«
    Tatsächlich
war
es ein anderer. Vier Jahre später fand György – in meinem Auftrag – Spuren von Jürgen und seiner Frau, die gleich nach der »Wende« nach Südafrika ausgewandert waren, dort aber auch für den Ex-Geheimdienstler unauffindbar blieben. Die passende Stasi-Akte wurde unter dem fast schon lustigen Decknamen »IM Gewürzgurke« geführt. Papas alter Freund, der uns bei den Vorbereitungen geholfen hatte, gar die Kontakte vermittelt hatte, war der Verräter gewesen. Was ich auch im Nachhinein nicht ganz verstand, war die Tatsache, dass sie uns trotzdem hatten ausreisen lassen. Vielleicht hatte Jürgen im letzten Moment ein schlechtes Gewissen bekommen. Doch ich erzählte all das meinem Vater nie. Herr Leder war längst tot, also störte ihn die Verdächtigung auch nicht mehr, und die vermeintliche Freundschaft mit Jürgen blieb eine der wenigen schönen Erinnerungen an seine DDR-Zeit.
    »Papa, es hat keinen Sinn, sich solche Gedanken und Vorwürfe zu machen.« Ich strich die Mousse-Reste von seinerOberlippe. »Freu dich einfach darauf, dass wir jetzt ein gutes Leben führen, führen werden.«
    »Wir müssen Sonja finden.«
     
    Ich sah zu ihm, wie er vom Beifahrersitz aus auf die Autobahn starrte, in seinem Gesicht immer noch ein Rest Überraschung darüber, dass er gerade vom Westen in den Osten reiste und problemlos würde zurückkehren können und dass sein Sohn und seine Frau mit ihm im Auto saßen. Er hatte deutlich zugenommen seit dem vergangenen Herbst, aber er war noch einige Pfunde von seinem früheren Kampfgewicht, wie er das nannte, entfernt.
    Im CD-Player steckte »Ich« von Minka. Klaus-Peter gestattete es nicht, dass wir etwas anderes hörten, die drei Alben liefen im ständigen Wechsel, den er höchstselbst organisierte, stolz darauf, die komplizierte Technik in diesem dahinsausenden Gefährt zu bedienen.
    »Das bist du«, sagte er manchmal, wenn die Gitarre gut zu hören war. Ich nickte nur und lächelte vor mich hin.
    »Unglaublich.« Er öffnete das Handschuhfach zum x-ten Mal und klapperte mit den CD-Hüllen, zog die Booklets heraus und suchte nach Stellen mit meinem Namen.
    »Music and lyrics Martin Gold«, las er in schlechtem Englisch vor, verkniff sich aber die Frage, warum das nicht in Deutsch dort stand – die hatte er nämlich schon fünf Mal gestellt.
    »Das macht man so.«
    »Martin Gold. Schöner Name.«
    »Finde ich auch.«
    »
Mein
Sohn.«
    »Ja, dein Sohn«, sagte Mama von hinten. »Und meiner auch.«
     
    Kühlungsborn im abendlichen Dunkel bot einen scheußlichen Anblick. Das Straßenlicht war trüb, die Beleuchtung in den grauen Häusern nicht weniger schummrig, und alles wirkte abgerissen und vernachlässigt. Ich kurbelte die Scheibe herunter und wurde von Gerüchen erschlagen, die ich fast vergessen hatte. Wenigstens die heranwehende Seeluft war frisch und würzig. Ich entdeckte eine Gaststätte, die aussah, als sei sie nicht völlig verlassen, und parkte den Daimler direkt davor. Als ich die Kneipe betrat, fühlte ich mich um zehn, zwölf Jahre

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