Sommerhit: Roman (German Edition)
zurückversetzt. Reinigungsmittel, Textilien, Möbel – alles roch noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte.
»Wir schließen gleich«, sagte die dicke Frau hinter dem Tresen. Sonst war niemand im Gastraum.
»Wir suchen das FDGB-Ferienheim«, erklärte ich.
»Das Fucik. Das ist jetzt ein Hotel.«
»Jetzt schon?« Ich war verblüfft.
Sie lächelte. »Aber kein gutes.«
Das Gebäude hatte sicher schöne Zeiten erlebt, aber die lagen lange zurück. Es war ein dreigeschossiger Bau im Stil der alten Seebäder, mit Erkern und Balkonen, aber es machte auf mich an diesem Abend den Eindruck, als sei es vor zwanzig, dreißig Jahren einfach vergessen worden. In der schummrigen, mit klapprigem DDR-Mobiliar ausgestatteten Halle saßen drei junge Männer – eindeutig Westler – am Tisch, vor sich eine Phalanx Bierdosen. »Life is a beach!«, riefen sie, als wir den Raum betraten, und dann lachten sie.
»Kann ich helfen?«, fragte jemand. In der Tür zu einem hell beleuchteten Raum, aus dem Geschirrgeklapper zu uns drang, stand eine Frau, die, den im Schatten kaum erkennbaren Bewegungen nach zu urteilen, gerade beide Hände an einem Tuch abwischte.
Aber meiner Mutter genügte das. »Sonja!«, schrie sie undgriff mit der Linken nach Klaus-Peters Hand. Die andere schlug sie vor den Mund.
Die Angesprochene bewegte sich ein wenig auf uns zu und verharrte dann wieder. Ihr Gesicht war jetzt zu erkennen. Es war tatsächlich Sonja, meine große Schwester. Sie legte den Kopf leicht schief und musterte uns kurz.
»Ich will euch nicht sehen«, sagte sie dann, recht leise, aber in eiskaltem Ton, drehte sich um und verschwand in der Küche, die Tür laut hinter sich zuschlagend. Gleich darauf war das Kratzen des Schlosses zu hören. »Verschwindet!«, rief sie von drinnen.
Mama brach in Tränen aus, mein Vater zog sie zu einem Tisch. Ich stand da, fror und wusste nicht, was ich tun sollte, obwohl ich mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Abwechselnd sah ich zum Tisch, wo Mama laut schluchzend an der Schulter meines Vaters hing, zu den drei Jugendlichen, die mich verdattert ansahen, und zur verschlossenen Küchentür.
Ich klopfte dagegen.
»Haut ab!«
»Sonja, ich bin es. Falk.«
Ich lehnte meinen Kopf gegen die Tür und meinte, ein leises Wimmern zu hören. Ich roch Apfelshampoo, war aber sicher, dass mir meine Wahrnehmung da einen Streich spielte.
Ich klopfte abermals, zaghaft. »Schwesterchen. Hier ist Falk. Bitte lass mich rein!«
Minutenlang geschah nichts. Meine Mutter weinte, die jungen Männer blieben stumm und verschoben Bierdosen auf dem Tisch, Klaus-Peter atmete schwer und heftig.
»Sonja«, wiederholte ich. »Bitte.«
Dann knirschte es plötzlich, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Das verheulte Gesicht meiner Schwester kam zum Vorschein, hübsch wie damals, trotz der Tränen.
»Falk?«, fragte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Du siehst nicht aus wie Falk. Du hast seine Stimme und seine Augen, aber du siehst nicht aus wie Falk.«
»Ich hatte einen Unfall. Vor fünf Jahren.«
»Einen Unfall?« Die Tür öffnete sich noch weiter, es roch nach Kartoffelschalen, den aufdringlichen DDR-Reinigungsmitteln, Fisch, altem Bratöl, abgestandenem Abwaschwasser, aber nicht nach Apfelshampoo. Der ganze Laden war die olfaktorische Hölle.
»Man hat mir das Gesicht zerschnitten. Außerdem habe ich abgespeckt.«
Sie starrte mich mit trüben Augen an. »Falki«, sagte sie dann und zog mich in die Küche. »Falki. Du konntest ja nichts dafür.«
Vierzig Minuten später, die ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde, kehrte ich zu meinen Eltern zurück.
»Es hat keinen Sinn«, erklärte ich. »Noch nicht. Und es wird nicht leicht.«
Meine Mutter nickte stumm, Klaus-Peter fixierte mit leerem Blick die Küchentür.
»Wir könnten es ihr erklären«, sagte er und sah mich hoffnungsvoll an. Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, das könntet ihr nicht. Ihr werdet ihr niemals erklären können, warum sie mit sechzehn alleingelassen und dann zu einer …«, ich sah zu Boden, »zu einer Funktionärshure wurde.«
Luise japste laut, und ich hatte einen Augenblick lang Angst, sie würde hier und jetzt ersticken. Klaus-Peter stand auf, ging zum Tisch der Westler, nahm eine Dose Bier und schlich aus der Tür.
Zwei Tage später fuhren wir nach Berlin zurück, schweigend, und Klaus-Peter verzichtete darauf, Minka-Alben zuspielen. Er saß nur da, sah auf die eigenen Füße, lauschte
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