Sommerhit: Roman (German Edition)
Biere vom Fass, mein Vater und ich, aber nach dem Zuprosten starrte er das Glas an, als wäre es ein Weltwunder. Dann den Rauchglasaschenbecher. Die Getränkeauswahl hinter der Bar. Die bedruckten Bierdeckel. Die rostroten Servietten im Halter auf dem Tisch. Die große Wurlitzer-Musikbox in der Ecke. Sein Blick huschte hastig von einem Gegenstand zum nächsten, als wäre es seine Aufgabe, anschließend ein exaktes Gedächtnisprotokoll abzuliefern. Es war tatsächlich sein erster Besuch einer »West-Gaststätte«, wie er das Restaurant nannte. Ich kämpfte ununterbrochen gegen den Wunsch an, ihn zu mir zu zerren und heftig zu umarmen. Vermutlich hätte ich meinen schmalen Vater einfach zerbrochen, wenn ich dem Impuls nachgegeben hätte.
Beim Essen, nachdem er eine Weile auf sein riesiges Steak gestarrt hatte, redeten wir über das Konzert. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Eltern im Publikum saßen, hätte ich wahrscheinlich keine Saite getroffen und bei den Chören nur ins Mikro gekrächzt. Mama wirkte stolz, obwohl sie mich schon ein paar Mal auf der Bühne gesehen hatte, und Klaus-Peter konnte es schlicht und ergreifend überhaupt nicht fassen.
»Etwa dreißigtausend Menschen bisher«, antwortete ich auf seine Frage, wie viele Leute unsere Tour besucht hätten.
»Dreißigtausend«, wiederholte er leise.
»Alleine in Hamburg und Berlin werden es jeweils viertausend sein.« Das wären die letzten beiden Shows. »Aber im Sommer haben wir in Gelsenkirchen bei einem Open-Air-Festival gespielt, mit über zehntausend Leuten im Publikum.«
»Open Air«, flüsterte er.
»Freiluft«, sagte Mama.
»Nicht zu fassen.
Mein
Sohn.«
»Ja, dein Sohn«, antwortete ich und legte meine Hand auf seine, fast nur Haut und Knochen. Sein Blick folgte meinem.
»Halb so wild. Ich bin selbst dafür verantwortlich. Hungerstreik, seit Juli.«
Ich schwieg.
»Rummelsburg«, sagte er. »Ich war näher an euch dran, als ihr gedacht habt, oder?« Er blinzelte fröhlich. »Aber ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll. Nach der Flucht habe ich vier Jahre gesessen, kam dann raus und wurde in Guben angesiedelt, direkt an der polnischen Grenze. Ich habe im Straßenbau gearbeitet.« Er hob die Hände, ich meinte, Schwielen zu erkennen, aber das war vielleicht nur eine Täuschung. »Ich habe nicht damit aufgehört, nach Sonja zu suchen, habe Ausreiseanträge gestellt, bin ständig unterwegs gewesen, obwohl mir das verboten war. Es gab Warnungen, dann habe ich einen Fluchtversuch unternehmen wollen, voriges Jahr im Sommer. Ich war gerade mal zwanzig Kilometer von Guben entfernt, da haben sie mich schon hopsgenommen. Sie waren fast höflich zu mir. Und in Rummelsburg habe ich von den Freikäufen gehört. Ich bin in Hungerstreik getreten, weil ich hoffte, das würde helfen. Aber es hat sie überhaupt nicht interessiert.
Dann eben nicht
, haben sie nur gesagt, als ich mein Essen nicht anrühren wollte.«
»Papa!«
»Aber ich habe schon wieder zugenommen. Vier Kilo.«
Ich verkniff mir eine zynische Bemerkung.
»Vor zwei Wochen haben sie mich einfach freigelassen. Plötzlich stand ich draußen, und niemand wollte mich irgendwo hinbringen. Also bin ich in Berlin geblieben. Das waren zwei wirklich harte Wochen, fast härter als im Knast, weil ich niemanden kannte, nichts hatte. Ich habe gebettelt, am Alex, vor dem RotenRathaus. Ein Westdeutscher hat mir am zweiten Tag fünfzig Mark zugesteckt, fünfzig Mark
West
. Damit habe ich diese zwölf Tage überlebt. Und am neunten …« Seine Stimme brach.
Mama schniefte, aber sie sah trotzdem hinreißend aus mit ihren fünfundvierzig Jahren, der eleganten, leicht vom Kieler Wind gezausten Frisur, im vermutlich selbstgenähten blauen Abendkleid, auf dessen Schultern rührende weiße Schleifchen befestigt waren. Klaus-Peter stellte einen starken Kontrast dar, dieser schmale, ausgemergelte Mann im schlecht sitzenden Zweiteiler, aber sie waren trotzdem … kein schönes, dazu fehlten meinem Vater zu viele Pfunde und verschenkte Lebensjahre, die sich als hellgraue Längsfalten in sein Gesicht gegraben hatten … sondern ein irgendwie
richtiges
Paar. Es tat sehr gut, die beiden zu sehen, es tat ihnen gut. Ich schnupperte. Auf dem Parkplatz vor der Halle hatten Abgase, die Würze der Ostsee und viele andere Gerüche das meiste verdrängt, aber hier nahm ich es deutlich wahr.
Sie rochen wieder nach Sex. Gestern Nacht, schätzte ich. Ich lächelte und war für einen Augenblick glücklicher als je
Weitere Kostenlose Bücher