Sommerkind
langsam auf. Sie ging ins Badezimmer und wusch sich. Mit Schrecken sah sie unzählige blutige Handtücher im Mülleimer. Die würden sie vor ihrem Aufbruch unbedingt entsorgen müssen. Aus einem Waschlappen fertigte sie sich eine provisorische Binde und zog sich dann an. Sie konnte es kaum erwarten, ihr Baby im Arm zu halten.
Als sie aus dem Bad kam, stand Bonnie in der Tür zum Schlafzimmer. Ihr Gesicht war kalkweiß.
“Sie sind fort”, sagte sie.
“Wer?”, fragte Grace, obwohl sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen.
“Nancy und Nathan. Das Cottage steht leer. Ihr Auto und die Koffer – einfach alles ist weg.”
Von Schmerz und Trauer überwältigt, sank Grace auf ihr Bett. Ihre Gedanken rasten. “Ich kenne noch nicht mal ihren Nachnamen. Du?”
Bonnie schüttelte den Kopf. “Ich glaube, den haben sie uns gar nicht gesagt.”
“Oh Gott, Bonnie. Mein Baby. Sie haben mir mein Baby weggenommen.” Sie fing an zu weinen, und Bonnie ging zu ihr hinüber und nahm sie in den Arm.
“Ich weiß. Es tut mir so leid. Aber es geht ihr bestimmt gut. Sie sind bestimmt nur so früh gefahren, um die Kleine schnell ins Krankenhaus zu bringen und untersuchen zu lassen. Nancy hat auf mich den Eindruck gemacht, als wäre sie eine wirklich gute Krankenschwester. Sie wird dafür sorgen, dass es deinem Baby an nichts fehlt.”
“Aber ich werde sie niemals sehen!”
Auch Bonnie weinte. “Ich hätte Nancy letzte Nacht nicht zustimmen sollen”, warf sie sich vor. “Aber ich habe doch nicht gemerkt, wie durcheinander du warst, dass du nicht mehr wusstest, was du sagst. Es schien alles so perfekt.”
Lange lag Grace weinend in Bonnies Armen. Dann blickte sie schließlich auf ihr Kopfkissen. Es sah ja so einladend aus. Das Gesicht zur Wand legte sie sich hin und zog die Decke über den Kopf. Sie spürte Bonnies Hand auf dem Rücken und schloss die Augen.
“Ich gehe schnell einkaufen”, meinte Bonnie, “und besorge dir die Binden. Brauchst du sonst noch was? Suppe oder so?”
Grace hatte nicht die Kraft zu antworten. Sie hatte die Frage ohnehin kaum gehört.
47. KAPITEL
“M ein Gott, Grace”, sagte Eddie. Im Laufe ihrer Erzählung hatte er sich neben sie auf das Sofa gesetzt. “Warum hast du mir denn nie davon erzählt?”
“Weil ich versucht habe, es zu vergessen.”
“Also … Nur, damit ich es richtig verstehe: War Pams Tod der Auslöser dafür, dass du wieder an das Baby gedacht hast? Als dir bewusst wurde, dass irgendwo da draußen dein Kind bei Adoptiveltern lebt? Und was ich immer noch nicht begriffen habe – welche Rolle spielt Rory Taylor dabei? Was geht zwischen euch vor?”
So viele Fragen, so vieles, was er noch nicht wusste. “Ich habe dir noch nicht alles erzählt”, sagte Grace. Wie sie es hasste, all diese Dinge laut auszusprechen. Sie hatte das alles im Geiste schon unzählige Male durchgespielt, und natürlich hatten sie und Bonnie in den vergangenen Jahren häufig darüber gesprochen. Aber es auf diese Weise noch einmal zu erzählen, verlieh dem Ganzen eine nie da gewesene Authentizität. “Bonnie ist an jenem Morgen einkaufen gegangen”, fuhr sie fort, “und als sie zurückkam, war sie ungewöhnlich still. Ich dachte, vielleicht fühlt sie sich nur schuldig, weil sie mich überredet hat, mein Baby Nancy zu geben. Sie wollte, dass ich etwas esse, aber ich konnte einfach nicht. Ich hatte mich noch nie so mutlos gefühlt. Ich wollte nur noch sterben.” Sie sah Eddie an. “Genauso habe ich mich auch nach Pamelas Tod gefühlt.”
Eddie legte seine Hand auf ihre, und sie ließ es geschehen. “Ich mich auch”, sagte er. Diese drei Worte öffneten ihr die Augen. Nach Pamelas Tod hatte sie ihm nie Trost oder Mitgefühl gespendet. Sie hatte ihn immer nur angeklagt.
“Bonnie hat dann schließlich doch geredet”, erzählte sie weiter. “Sie sagte, dass in dem kleinen Lebensmittelgeschäft jeder von einem neugeborenen Mädchen gesprochen hätte, das am frühen Morgen am Strand gefunden worden war.”
“Oh nein.” Eddie hielt ihre Hand fester.
“Der Kassierer erzählte Bonnie, das Baby wäre tot gewesen. Als Bonnie mir das sagte …” Grace schloss bei der Erinnerung die Augen. “Es hat mich zerrissen, Eddie. Ich hatte dieses Baby gewollt. Ich war bereit gewesen, dafür mein Leben umzukrempeln. Aber ich dachte, die Krankenschwester hätte recht. Ich habe ihr vertraut. Und sie hat mein Baby einfach an den Strand gelegt, damit es wie ein Stück Treibholz vom Meer weggespült
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