Sommerliebe
›Ich bin Frau Ilse Bartel.‹«
Heinz wartete auf ein Zeichen oder eine Äußerung der Zustimmung. Nichts erfolgte.
»›Ich bin Frau Ilse Bartel‹, hast du gesagt«, wiederholte er deshalb mit erhobener Stimme.
Ilse nahm die Sache ernster, als er dachte.
»Du kennst mich nicht«, meinte sie sichtlich enttäuscht.
»Wieso nicht?«
»Du schätzt mich ganz falsch ein.«
»Wieso, bitte?«
»Du hast ein Bild von mir, das überhaupt nicht zutrifft. Und daß sich dieses falsche Bild sogar schon in deinem Unterbewußtsein festgesetzt hat, beweist ein solcher Traum.«
»Was beweist der?« regte sich Heinz auf, der nicht wußte, was ihm anzukreiden war.
»Das, was ich sage: Du kennst mich nicht.«
»Wieso nicht? Sprich – bitte – endlich!«
»Es wäre ausgeschlossen, daß ich ein solches Stubenmädchen entlassen würde. Woher soll denn das arme Ding den Unterschied kennen zwischen einem Herrn und einem Mann? Das ist oft gar nicht so einfach.«
Heinz blickte sie verblüfft an.
»Ilse … ich … ich weiß nicht … ich weiß nicht, was ich sagen soll …«
»Sag auf keinen Fall, es war doch nur ein Traum.«
»Gut, ich sage nicht, es war doch nur ein Traum – ich sage vielmehr, daß du großartig bist, ein Mensch mit einem höchst empfindlichen sozialen Gewissen.«
»Danke.«
»Ich werde mir dich zum Vorbild nehmen.«
Ilse war wieder ganz mit ihm versöhnt.
»Ich glaube«, sagte sie, »du brauchst keine solchen Vorbilder, Heinz.«
»Doch, doch«, erklärte er. »Und um meine Scharte ein bißchen auszuwetzen, möchte ich dir noch einen zweiten Traum erzählen …«
»O ja, bitte.«
»Da war ein ganz kleines Postamt mit nur einem Postbeamten, der alles machen mußte, auch die Telegrammannahme. Und dieser Postbeamte war ich. Ich nahm Briefe und Päckchen entgegen und stempelte sie, zahlte Renten aus, stand Postsparkunden zur Verfügung, war zuständig für Telefongebühren und, wie gesagt, für die Annahme von Telegrammen. Die Arbeit wuchs mir über den Kopf. Eines Tages, mitten im größten Trubel, vor dem Schalter standen drei Leute, läutete das Telefon. Am Apparat war eine Dame, die fernmündlich ein Telegramm aufgeben wollte. Ich erkannte ihre Stimme sofort. Sie siezte mich, und deshalb dachte ich, daß sie sich einen Spaß machen wolle. ›Herr Bartel‹, sagte sie, ›ich möchte ein Telegramm aufgeben. Kann ich das?‹ ›Selbstverständlich, meine Dame‹, antwortete ich, den Spaß mitmachend, ›dazu bin ich da. Ihren Text, bitte …‹ Sie fing an: KOMM SOFORT ZU MIR STOP LASS ALLES LIEGEN STOP UNSER KIND IST SEHR KRANK STOP AUSSERDEM HABE ICH GROSSE SEHNSUCHT NACH DIR STOP LÄSST DU NICHT ALLES IN DIESER MINUTE LIEGEN REICHE ICH DIE SCHEIDUNG EIN STOP DIES IST MEIN VOLLER ERNST STOP – ›Ist das alles, meine Dame?‹ fragte ich. Ja, es war der ganze Text. ›Und an wen geht das Telegramm? An welche Adresse?‹ ›An Sie, Herr Heinz Bartel, in Ihrem Postamt.‹ ›Gut‹, sagte ich. ›Buchstabieren ist unnötig, ich habe den Namen verstanden. Nun als letztes: Wer ist die Absenderin?‹ ›Ich‹, sagte sie, ›Ilse Bartel, Köln, Aachener Straße 16.‹ Inzwischen hatte sich eine vierte Person vor meinem Schalter eingefunden. ›Also, Ilse‹, sprach ich ins Telefon, ›ich muß jetzt weitermachen, der Spaß hat ein Ende.‹ Es sei kein Spaß, unterbrach sie mich, sie verweise auf ihr Telegramm, insbesondere auf den letzten Satz vom vollen Ernst. Wenn ich nicht an sie dächte, dann wenigstens an unser Kind. Mir wurde ganz heiß, denn ihre Stimme war ungewöhnlich ernst. Plötzlich wußte ich, daß tatsächlich unsere Ehe auf dem Spiel stand. Aber was sollte ich machen? ›Ilse‹, sagte ich, ›ich komme sofort nach Dienstschluß, und zwar nicht mit der Straßenbahn, sondern mit dem Taxi.‹ Nach Dienstschluß sei es zu spät, antwortete sie und hängte ein. Ich saß da und wußte nicht, was ich tun sollte. Dann entschied ich mich für einen Kompromiß. Ich fertigte die vier Leute vor meinem Schalter ab, sperrte das Amt zu und sauste nach Hause. Dort war meine Frau schon am Packen, um zu ihrer Mutter zu fahren. Mein Kompromiß konnte sie aber Gott sei Dank doch noch einmal umstimmen.«
Heinz, dem vom langen Reden der Mund trocken geworden war, wollte dem mit einem Schluck Tee abhelfen. Er ergriff die Tasse, mußte jedoch sehen, daß sie leer war, und stellte sie wieder zurück auf das Konsölchen.
»Ilse«, sagte er dann, »habe ich nun in meinem Traum richtig gehandelt oder
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