Sommerliebe
vielleicht für immer alle Chancen bei Ilse verdorben.
»Und noch etwas, Heinz: Du vergißt immer einen Faktor in dieser Geschichte, auf den ich dich schon in Heringsdorf aufmerksam gemacht habe …«
»Auf welchen?«
»Auf meine Mutter. Du ahnst nicht, welche Fesseln mir dadurch auferlegt sind.«
Ein alter Mann kam ihnen entgegen, der mit unsicherer Miene nach einem Straßenschild oder etwas Ähnlichem Ausschau hielt. Zögernd trat er Heinz in den Weg und sagte, ob er ihn etwas fragen dürfe.
Er wollte zum nahegelegenen Bahnhof.
Heinz setzte zu einer Beschreibung des Weges an, aber Ilse, noch hilfsbereiter als er, fiel ihm ins Wort, indem sie zu dem alten Mann sagte: »Sie haben Glück, wir müssen auch dahin. Schließen Sie sich uns an. So kommen Sie auf dem schnellsten Wege zu Ihren Ziel.«
Zu Heinz sagte sie: »Guck auf die Uhr, es wird auch für uns Zeit.«
Der Alte war hoch erfreut. Redselig wie die meisten Greise wartete er gleich mit einer kleinen Lebensgeschichte von sich auf. Er sei kein Berliner, sondern Rostocker. Nach Berlin habe seine Tochter geheiratet, die er jedes Jahr zu besuchen pflege. So auch jetzt wieder. Täglich ginge er zum Bahnhof, um sich eine Rostocker Zeitung zu besorgen. Man müsse sich doch über die Ereignisse zu Hause auf dem laufenden halten. Täglich beschreibe ihm seine Tochter den Weg zum Bahnhof, und täglich müsse er sich diesbezüglich auf der Straße noch einmal an Passanten halten, der Sicherheit halber. Davon sage er aber seiner Tochter nichts. Sie habe zwei Kinder. Berlin gefiele ihm ganz gut, mit Rostock könne es sich allerdings nicht messen. Was Rostock Berlin voraushabe, sei insbesondere das Meer. Nun herrsche ja Krieg. Die alten Rostocker hätten früher ausschließlich bei der Marine gekämpft, die jungen so ziemlich auch wieder.
»Und Sie?« fragte er Heinz. »Bei welcher Waffengattung dienen Sie? Haben Sie Urlaub, weil Sie in Zivilkleidung herumlaufen?«
»Noch habe ich Urlaub, ja«, sprach Heinz die Wahrheit. »Aber in wenigen Tagen ist er zu Ende.«
Der Bahnhof tauchte in Sichtweite auf.
»Nun finden Sie sich sicher zurecht«, sagte Ilse zu dem alten Herrn und wurde rot, als er antwortete: »Notfalls frage ich noch einmal, schönes Kind. Sie übertreffen die hübschesten Rostockerinnen, und das heißt etwas!«
Rolf stand inmitten der Landser an der Theke, als Ilse und Heinz über die Schwelle der Kneipe traten, in der inzwischen das Leben überzuschäumen drohte. Es erklangen die Lieder ›Schwarzbraun ist die Haselnuß …‹, ›Frühmorgens wenn die Hähne kräh'n …‹ und natürlich der ›Sch..ö..ö..ne We..e..e..sterwald …‹. Der Fehler war aber, daß diese hübschen Lieder von den Männern an der Theke nicht nacheinander, sondern alle drei zur gleichen Zeit gesungen wurden. Die Männer hatten sich über eine Reihenfolge nicht einigen können, und so intonierte jeder das Lied, für welches er eine Vorliebe besaß. Was dabei herauskam, versetzte die Wirtin in der Küche in Schrecken, insbesondere, als sie in dem kaum zu ertragenden Chor auch noch das Organ ihres Mannes erkannte, der ein viertes Lied – ›Drei Heller und ein Batzen …‹ – anstimmte.
Es war nicht einfach, Rolf aus der Gesellschaft, die er gefunden hatte, zu lösen. Heinz mußte ihm drohen, ihn zurückzulassen und die Weiterfahrt nach Köln allein anzutreten. Dieses Hin und Her verschlang natürlich wieder Zeit, so daß es buchstäblich höchste Eisenbahn war, als sie endlich über den Bahnsteig zu ihrem Zug stolperten. Bis zur Abfahrt blieben keine fünf Minuten mehr.
Rolf wurde in einem Abteil in eine Ecke gesetzt, wo er im Handumdrehen zu schnarchen anfing. Heinz verließ den Waggon noch einmal. Er stand nun unmittelbar beim Trittbrett, hielt Ilses Hand fest in der seinen und versuchte, die letzten Minuten vor der Abfahrt, jene verteufelt langen Minuten, in denen man nicht weiß, was man sagen soll, mit irgendwelchen Bemerkungen auszufüllen.
»Unser zweiter Abschied, Ilse«, meinte er leise. »Der erste in Heringsdorf, der zweite in Berlin … der dritte … wo wird der stattfinden?«
Das weiß der Himmel, dachte er.
Ilse sagte nichts. Sie blickte ihn mit großen, glänzenden Augen an.
»Diese Augen«, sagte er, »werde ich nie vergessen. Diese Augen werden mich überallhin begleiten, und eines Tages werden sie mich rufen und zusammen mit den Lippen ja sagen.«
Weiß der Himmel, wann das sein wird, dachte er. Gottverdammter Krieg!
»Heinz«, sagte Ilse
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