Sommerliebe
leise.
»Ja?«
Sie schwieg, schaute ihn nur unverändert mit ihren wunderbaren Augen an.
»Ja?« wiederholte er.
»Nichts«, sagte sie leise.
Und dann noch einmal nur: »Nichts.«
Er preßte mit seinen starken Fingern ihre viel schwächeren, zarteren. Fast hätte sich ihr ein kleiner Schmerzensschrei entrungen.
»Ilse.«
»Ja?«
»Nichts.«
Türen schlugen zu, die Lokomotive ließ Dampf ab, der Schaffner eilte die Waggonreihe entlang – alles wie in Heringsdorf.
Die grausame Stimme aus dem Lautsprecher: »Achtung, der Zug …«
Ilse fuhr zusammen, entzog Heinz die Hand.
»Du mußt rein!«
An vielen Türen umarmten sich die Menschen, Tränen flossen, Hände streichelten. Heinz riß Ilse noch einmal an sich, küßte sie leidenschaftlich, ließ sie los und sprang aufs Trittbrett.
Die letzten Türen knallten, die Lokomotive pfiff, der Mann mit der roten Mütze hob den Stab …
17 Uhr 23.
Abschied von Berlin.
Abschied von Ilse.
Abschied von der Jugend.
War es das schon, ein Abschied von der Jugend?
Abschied vom Traum.
Das war es auf alle Fälle schon, ein Abschied vom Traum.
Heinz sollte nämlich seine Ilse nicht wiedersehen. Dafür, daß sich Heinz und Ilse nicht mehr wiedersahen, war jener Wahnsinnige verantwortlich, der damals an Deutschlands Spitze stand. Er stürzte die Welt in den grausamsten Krieg aller Zeiten. Er hatte sich schon sein Volk Untertan gemacht und wollte sich dann auch noch zum Herrn Europas aufschwingen. Er bediente sich dabei des Größenwahns einer braunen, von ihm verrückt gemachten uniformierten Herrenrasse.
Auch Heinz Bartel wurde in diesen Strudel des Wahnsinns mit hineingezogen. Er wurde Feuilleton-Redakteur einer Zeitung in Westfalen. Damals hieß das freilich nicht ›Redakteur‹, sondern ›Schriftleiter‹, da die deutsche Sprache ›rein‹ erhalten, Fremdwörter also ausgemerzt werden mußten.
Bartel beugte sich unter das Joch der Pressezensur und war sich im klaren darüber, daß er dadurch zu jenen gehörte, die zur Blindheit des Volkes beitrugen. Was hätte er machen sollen? Die innere Stärke, den Heldenmut zum politischen Widerstand besaß er nicht. Er schwamm also mit, mußte einen Beruf ausüben. Was konnte er? Schreiben. Von was verstand er etwas? Von Kultur. Das Resultat aus beidem? Er wurde ›Kulturschaffender‹. Heinz Bartel – ein Demonstrationsobjekt der Logik. Das absolut Widersinnige war nur, daß es damals keine Kultur mehr gab. Feuer und Wasser schließen einander aus; Adolf Hitler und Kultur auch.
Bartel saß in den Bunkern, wenn Minen und Phosphor vom Himmel herabregneten. Er verlor sein Heim, grub unter den Trümmern nach seinen getöteten Eltern, karrte sie selbst zum Friedhof und schaufelte ihnen das Grab. Er schrie seinen Schmerz nicht hinaus, aber in seinem Herzen wuchs eine Rechnung, über die er das Wort ›Vergeltung‹ setzte.
Er stumpfte nicht ab, sein Zorn erlahmte nicht. Mit offenen Augen ging er durch die Zeit, sah die Leiden seiner Brüder und Schwestern, sah den Wahnsinn, der seine Heimat zerstampfte und über die Heimat hinaus sein ganzes Vaterland in den Abgrund riß.
Wer dachte da an eine Reise nach Berlin? Wohl wanderten Briefe hin und her, wohl fühlten Heinz und Ilse, daß sie sich über alle Fernen stetig näherkamen, reifer geworden durch alles überstandene Leid, und doch wuchs zwischen ihnen auch der Abstand, welcher der Wille des Schicksals war. Trennung sei die Feindin der Liebe, lautet ein chinesisches Sprichwort. (Eheleute meinen, Nähe ist die Feindin der Liebe. Recht haben die Chinesen und die Eheleute; so kompliziert ist eben das Leben.)
Rolf Wendrow wurde eingezogen, als Arzt der Luftwaffe. Heinz Bartel wechselte schließlich den Zivilanzug gegen die Uniform des Kriegsberichterstatters, und so sah er noch tiefer in das Grauen seiner Zeit und entsetzte sich vor dem Verfall, der ihm allenthalben fäulnisartig in die Nase stank.
Er reiste von Front zu Front, schrieb über Unbeschreibliches und wußte, daß es nur ein einziges Wort gab, das ihm aus der Feder hätte fließen müssen: WAHNSINN.
In Berlin saß ein Mädchen im Luftschutzkeller, fürchtete sich vor den rollenden Angriffen und zitterte, zusammen mit all den Millionen deutscher Zivilisten an der sogenannten ›Heimatfront‹.
Oft setzte Heinz Bartel an zur Reise nach Berlin – aber einmal zerstörte ein Luftangriff die Strecke, ein anderes Mal traf er in Hannover einen lang entbehrten Freund und blieb so lange bei ihm hängen, bis die wenigen
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