Sommernachtsgeflüster
dann mit der Person zu seiner Linken bekannt, sodass wir anschließend alle wissen, wie wir heißen.«
»Ich hasse das«, brummte die alte Dame. »Ich heiße Doris, meine Liebe. Verraten Sie mir Ihren Namen, aber machen Sie sich nicht die Mühe, mir den irgendeines anderen zu nennen. Ich werde ihn ohnehin nicht behalten.«
»Du hast mich nicht vorgewarnt, dass es Gesellschaftsspiele geben würde«, beschwerte sich Thea bei Molly, als das Ritual durchgestanden war. »Unter diesen Umständen wäre ich nicht mitgekommen.«
»Papperlapapp«, sagte Molly, »das ist nur ein bisschen Training, damit wir uns besser kennen lernen. Ah, gut, da kommt der Wein.«
Am Ende des Abends war Thea müde, sah dem Urlaub aber auch mit sehr viel mehr Optimismus entgegen. Nicht alle Mitreisenden waren wirklich alt, und die wenigen, auf die das zutraf, schienen ihre Jahre durch ihr Interesse aneinander und am Leben ganz allgemein wettmachen zu wollen. Auf dem Heimweg ins Hotel gähnte sie herzhaft, beteiligte sich nicht an dem allgemeinen Geschnatter und war bereits eingeschlafen, bevor Molly ihr großes Schlafenszeit-Schönheitsritual beendet hatte.
Nach ungefähr einer Stunde wurde sie wieder wach. Molly schnarchte laut und unregelmäßig. Thea vergrub sich unter den Decken und fragte sich, ob sie es jemals schaffen würde, wieder einzuschlafen. Morgen würde sie versuchen, sich Ohrstöpsel zu besorgen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie das bewerkstelligen sollte - schließlich sprach sie nur wenig Französisch. Es wäre Molly gegenüber nicht fair gewesen, den redegewandten Gerald um Hilfe zu bitten, da er ja wusste, dass Molly und sie ein Zimmer teilten, und sie so verliebt in ihn war.
Aix-en-Provence gefiel Thea. Es war ein bezauberndes Städtchen, voll von schönen Brunnen, alten Häusern und herrlichen Cafés. Es war schade, dass sie nachts so schlecht schlief - denn das bedeutete, dass sie tagsüber im Bus sehr leicht einschlief. Wenn Molly sie mit geschlossenen Augen erwischte, versetzte sie ihr einen Rippenstoß und befahl ihr, aus dem Fenster zu schauen. Es war nicht so, dass Thea sich nicht gern ein weiteres Mal den Le Mont St. Victoire angesehen hätte - der Berg gefiel ihr, und sie konnte vollkommen verstehen, dass er Cézanne offensichtlich nicht losgelassen hatte -, aber sie war einfach müde.
Am vierten Tag versammelte sich die Reisegesellschaft in einem schönen Raum in einem der alten hôtels, die inzwischen von der Universität genutzt wurden. Porträts der Würdenträger von Aix blickten missbilligend auf die stapelbaren Plastikstühle hinab, die dort für die Studenten aufgestellt worden waren, und die erfahrenen Tiger-Tours-Reisenden hatten ihre Notizbücher und Stifte gezückt. Auf dem Programm stand ein Vortrag über Cézanne.
Thea saß hinten in sicherer Entfernung von Molly neben einigen der älteren Mitglieder der Reisegruppe, die vielleicht selbst einnickten und sie nicht kritisieren würden, wenn ihr das Gleiche passierte. Der Nachmittag war als »freie Zeit« ausgewiesen, und Thea wusste, dass Molly einkaufen gehen wollte. Frei würde die Zeit für keine von ihnen beiden sein: Molly würde sie ein Vermögen kosten, und Thea würde sich vergebens danach sehnen, dem Einkaufsbummel zu entkommen.
Der Dozent betrat den Raum. Zuerst dachte Thea, es müsse jemand sein, den man herbeigerufen hatte, um die Stühle anders hinzustellen oder dergleichen, denn er war viel zu jung, um irgendetwas mit Tiger Tours zu tun haben zu können - er war sogar jünger als Thea selbst. Er war groß, dunkelhaarig und einfach eine Augenweide. Thea setzte sich aufrecht hin und beschloss, doch nicht einzuschlafen - alte Baudenkmäler hatten ihre eigene Schönheit, aber das Gleiche galt für gut gebaute junge Männer mit blauen Augen und langen Wimpern. Er war in Petals Sprachgebrauch »eine Schnitte«.
Thea schenkte ihm ein paar Augenblicke lang ihre Aufmerksamkeit, nur um festzustellen, dass sein gutes Aussehen ihn nicht automatisch zu einem guten Vortragsredner machte. Er sprach zu leise, er lächelte nicht, und im Gegensatz zu dem redegewandten Gerald gelang es ihm nicht, sein Thema mit ein wenig Enthusiasmus zum Leben zu erwecken. Er sprach, soweit sie es hören konnte, in einem typisch irischen Singsang, und das war angenehm einschläfernd.
Nach ungefähr zehn Minuten wachte Thea wieder auf und beschloss, nicht mit Molly einkaufen zu gehen; stattdessen würde sie sich einen Lunch gönnen. Thea ging genauso gern
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