Sommernachtszauber
alles hätte Joss große Freude gemacht. Vor allem das Tanzen. Sie fragte sich, warum sie Topsy erzählt hatte, sie könne nicht tanzen – wohl infolge jahrelanger Selbstverleugnung. Marvin verabscheute Tanzen, und so schien ihr die Behauptung, sie könne es nicht, das Einfachste zu sein. Inzwischen konnte sie es wahrscheinlich wirklich nicht mehr. Wer rastet, der rostet, hieß es ja.
Nein, sie gingen am Samstagabend nicht zum Tanzen, sondern zum Essen. Meistens zu Essenseinladungen bei Marvins Kameraden vom Rotary-Club oder vom Kricketteam oder in den Golfclub in Winterbrook oder in Restaurants, die in der Wochenendbeilage seiner Zeitung empfohlen worden waren und winzig kleine, dekorativ angerichtete Mahlzeiten servierten, die aber weder Joss’ Erwartungen noch ihrem offenbar unmodern guten Appetit entsprachen.
Langsam befestigte sie ihre Perlen-Ohrstecker: blasser, unauffälliger Schmuck, passend zu ihrem blassen, unauffälligen Gesicht und dem cremefarbenen Seidenpullover. So farblos … Sie fragte sich oft, was Marvin wohl dazu sagen würde, wenn sie mit üppigem Make-up und in einem extravaganten Kleid in Feuerrot und Orange hüftenschwingend die Treppe hinabgetanzt käme? Was würde Marvin wohl dazu sagen, wenn sie ihm vorschlüge, etwas Spontanes und Gewagtes zu tun? Was würde Marvin wohl dazu sagen, wenn sie ihm erklärte, dass der Samstagabend für sie das Grässlichste an der ganzen Woche war?
Manchmal blieben sie auch zu Hause und luden zu einer Dinnerparty in ihren Bungalow ein. Das war am allerschlimmsten. Wenn Leute gekommen wären, die sie kannte und mit denen sie sich wohl fühlte, hätte sie es ja schön gefunden, aber Marvin hatte Joss’ Freunde, die sie in The Close besuchen kamen, im Lauf der Jahre erfolgreich vergrault, und schließlich waren selbst die hartnäckigeren fortgeblieben.
Also kamen Marvins Bekannte. Joss verabscheute das gehässige, überhebliche Geschwätz dieser Leute, die sie kaum kannte und mit denen sie nichts gemeinsam hatte. Auch fühlte sie sich immer unter Druck gesetzt, die neuesten Designermahlzeiten zu servieren, um den Ansprüchen von Marvins Kameraden und deren wohlerzogenen Ehefrauen mit den Piepsstimmen zu genügen.
Joss kochte am liebsten gute, einfache Hausmannskost – sie war eben in jeder Hinsicht ein schlichtes Gemüt – und hätte gerne herzhafte Eintöpfe und Pasteten und Aufläufe und Puddings auf den Tisch gebracht. Aber Marvin wollte davon nichts wissen. Nein, sie musste sich mit überkandidelten Kochbüchern abplagen und marinierte Kinkerlitzchen auf Spießchen komponieren und dabei stets berücksichtigen, ob nun Pomeranzen oder Heidelbeeren gerade kulinarisch en vogue waren.
Immerhin stand so etwas heute Abend nicht auf dem Programm, obwohl es wie immer ein Geheimnis blieb, wohin sie gingen. Marvin entschied das.
Als sie aufstand und sich den gediegenen mausgrauen Rock glatt strich, wünschte Joss, sie könnte mit Valerie Pridmore und deren Mann einen ausgelassenen Abend im Barmy Cow verbringen, trinken, Darts spielen und lachen.
Marvin setzte natürlich nie einen Fuß ins Barmy Cow , und es war ja auch wirklich eine Spelunke – aber eine Spelunke voller Leute, die mit ihrem Los zufrieden waren, sich an dem freuten, was sie hatten, und das Hier und Heute nicht durch Wenndoch-nur-Gedanken verdarben. Leute, die lachten und sangen und sich eine verdammt gute Zeit machen konnten. Leute wie Valerie Pridmore und deren Mann, die immer noch miteinander schliefen …
Sogar die Berkeley Boys fand Joss amüsant. Marvin, der die viktorianischen Moralvorstellungen seiner Vorfahren nie wirklich abgelegt hatte, rümpfte die Nase, wenn von ihnen die Rede war, und nannte sie die Berkeley-Bastarde. Marvin fand zwar, die Verwendung von Schimpfworten zeuge von niederer sozialer Herkunft, glaubte jedoch, er könnte das Wort Bastard in seiner korrekten Bedeutung verwenden, ohne dass der Himmel einstürzte.
»Jocelyn!« Marvins Stimme tönte durch den Bungalow. »Bist du so weit? Es ist gleich sieben!«
Joss zog ihren cremefarbenen Regenmantel aus dem Schrank – es war immer noch grau und kalt und nass draußen – und schlüpfte in ihre vernünftigen flachen Pumps, die sie samstags immer trug, denn sie fuhr den Wagen, damit Marvin etwas trinken konnte. Dann ging sie mit dem vertrauten Gefühl, zur eigenen Hinrichtung zu schreiten, durch den Flur ins Wohnzimmer.
»Fertig. Mit wem essen wir heute Abend?«
Marvin hatte sich zum Ausgehen wie immer fein gemacht
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