Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Mal deine Geschichte gehört habe, denke ich sehr oft an dich. Und das ist lange vor unserer ersten Begegnung geschehen.“
Endlich wandte Emily ihren Blick von der Dunkelheit ab und sah Arrow in die Augen.
„Weißt du“, fuhr Arrow fort, „dort, wo ich herkomme, sagt man, dass niemand wirklich tot ist, solange er in den Köpfen anderer existiert. Und das tust du, Prophezeiung hin oder her. Außerdem richte ich nicht mein ganzes Leben nach diesen Versen, die irgendwann mal irgendwer irgendwo zusammengedichtet hat. Zwar hat es eine Weile gedauert, doch ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass es einen wichtigen Bereich in meinem Leben gibt, den ich mir weder aussuchen noch ändern kann. Doch diesem Pfad folge ich nur aus einem einzigen Grund. Eines Tages möchte ich frei sein. Frei vom Schicksal, frei von meinen Widersachern und frei von der Figur, die so viele in mir sehen. Vor allen Dingen möchte ich aber, dass mein Kind in Freiheit lebt. Dafür kämpfe ich, wenn es sein muss auch bis in den Tod. Doch, Bestimmung hin oder her, bin ich auch immer noch ein eigenständiges Wesen, und ich lebe jetzt. Vielleicht ist es mir nicht vergönnt, alle Bereiche meines Lebens nach meinen Wünschen lenken zu können, doch eines weiß ich ganz genau – solange ich lebe, wirst du es auch tun. Ganz tief in meinem Inneren.“
Emily lächelte. „Das hört sich schön an. Aber ich finde es auch bedenklich. Hast du denn gar keine Angst?“
„Von allen Gefühlen, die ein Wesen wie ich fähig ist zu spüren, ist Angst mein stärkster und gegenwärtigster Begleiter. Manchmal ist es, als diene mein Dasein einzig der Bestimmung, dieses Gefühl zu nähren. Wenn ich am Morgen erwache, fürchte ich um mein Kind und all jene, die mir etwas bedeuten. In Zeiten wie diesen weiß man nie, was der Tag bringt und ob sie alle am Abend auch noch an meiner Seite sein werden und mich beschützen. Ich fürchte den Kampf, der uns allen noch bevorsteht, doch gleichzeitig auch das Leben, das ich führen müsste, wenn ich mich dem nicht stellen würde. Das Leben auf der Flucht zu verbringen macht mir Angst. Bevor ich am Abend einschlafe, fürchte ich manchmal die Dunkelheit und alles, was sich darin verbergen könnte. Dann habe ich Angst, am Morgen aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass sich Dinge verändert haben. Andererseits fürchte ich aber auch, nie wieder aufzuwachen, diejenigen, die ich liebe, damit in Trauer zu stürzen und mein Kind nicht mehr aufwachsen zu sehen.“
„Das sind ziemlich viele Ängste“, entgegnete das Mädchen besorgt. „Trotzdem ist dir nichts davon anzumerken.“
„Das will ich auch hoffen. Anderenfalls wäre alles umsonst. Denn wer setzt schon all seine Hoffnungen in jemanden, der nicht einmal imstande ist, an sich selbst zu glauben?“
Emily lächelte zuversichtlich. Dann plötzlich trübte sich ihr Blick wieder und sie sagte: „Ich fürchte mich vor dem, was mich nach dem Holunderwald erwartet.“
„Vor dem Himmelreich?“
„Nein, vor der Unterwelt. Ich weiß ja nicht, ob ich in meinem Leben soweit alles richtig gemacht habe, dass es mir auch vergönnt ist, in das Himmlische Reich einzutreten. Was, wenn ich in die Hölle komme?“
„Ich denke, wenn das der Fall wäre, dürftest du dich auch im Holunderwald nicht mehr so frei bewegen. Ein Blinder würde erkennen, welch einen Narren Frau Gaude an dir gefressen hat, und ich glaube kaum, dass ein Verdammter je in ihrer Gunst stehen würde.“
„Manchmal habe ich auch das Gefühl, ihr wichtig zu sein. Seltsamerweise vermisse ich sie seit meiner Abwesenheit im Holunderwald sogar am meisten. Das ist komisch, denn bei fast allen anderen ist sie sehr verhasst. Oft wünsche ich mir, dass sie versuchen würden, sie besser zu verstehen und sie kennenzulernen. Sie hat mir schon oft Trost gespendet.“
„Und du wünschst dir in diesem Augenblick, dass sie hier wäre, um es wieder zu tun“, mutmaßte Arrow.
Das Mädchen nickte.
„Ich kann dich verstehen“, entgegnete Arrow und dachte dabei an ihre Beziehung zu Anne. „Dennoch bist du nicht allein. Wenn du über etwas reden möchtest, stehe ich dir jederzeit so gut ich kann zur Seite.“
Wieder senkte Emily den Blick, doch ihre Augen wirkten bei weitem nicht mehr so leer, wie noch am Anfang ihres Gespräches. Dann fing sie plötzlich an, von den Toten zu erzählen, und sie sollte recht behalten. Eine Geschichte war dunkler als die andere. Es ging von Menschen, die durch das Beil des Henkers von
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