Song of the Slums
gefangen.
»Nee!« Der Einzahn starrte mit offenem Mund. »Nich möglich!«
»Geht gar nich!«, bestätigte der Halbbart.
Verrol ergriff die Klinge.
»Stech ihn mit deinem!«, feuerte der Einzahn seinen Kameraden an.
»Nä, nich mit mir!« Der Halbbart setzte zum Rückzug an. »Haste nich gesehen, was er gemacht hat?«
»Is doch nur
ein
Mann«, knurrte der Einzahn, der allerdings ebenfalls den Rückzug antrat.
Der Halbbart schüttelte den Kopf. »Er is der Teufel!«
Im nächsten Moment rannten beide, links und rechts an Verrol vorbei, um ihr Leben.
Er sah ihnen nicht einmal hinterher, sondern ging gleich zu Astor. »Bist du verletzt?«
Astor konnte weder antworten noch denken. Er hatte das Bajonett noch immer in der Hand, und sie starrte entsetzt darauf. Als er ihre Reaktion sah, warf er es weg.
Allmählich fand sie ihre Stimme wieder, doch als sie sprach, war es, als spräche jemand anderes durch ihren Mund. »Lass uns gehen und einer Gang beitreten, irgendwo in den Slums«, sagte sie.
Und so machten sie sich auf den Weg. Astor konzentrierte sich darauf, so dicht wie möglich hinter Verrol zu bleiben. In ihrem Schockzustand war dies das Einzige, auf das sie sich überhaupt konzentrieren konnte.
Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Sie liefen zahllose Straßen entlang, nahmen unzählige Abbiegungen, die Straßen wurden immer enger, je weiter sie kamen, und das Kopfsteinpflaster wurde von Kies und Schotter abgelöst. Von den Wänden der Mietskasernen, die jetzt nur noch drei oder vier Stockwerke hoch waren, blätterte der Putz ab. Oft zogen sich Rohre quer über die Straße, aus denen warmes Wasser oder ölige Flüssigkeiten tropften. Astor wischte die Drecksspritzer von ihrem Haar und ihren Schultern und lief weiter. Ihre nassen Schuhe gaben bei jedem Schritt ein leises Quietschen von sich.
Viele seltsame Geräusche waren durch die Nacht zu hören, aber ein Geräusch war konstant: ein eintöniges pochendes, pumpendes und hämmerndes
Bumm-Bumm-Bumm
. Der Boden unter ihren Füßen bebte im Rhythmus des Pochens, das wie ein lebendiger Herzschlag war.
»Maschinen«, erklärte Verrol. »Wir haben jetzt das Gebiet der Fabriken erreicht. Fast alle davon gehören den Swales.«
Er wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als das Heulen einer Sirene, das am Ende zu einem lauten Pfiff wurde, durch den Smog schnitt. »Das kommt von der Gießerei da hinten.« Er wies in eine Richtung. »Schichtwechsel der Hüttenarbeiter.«
Astor meinte im Dunkeln den Umriss von etwas riesigem Schwarzen erkennen zu können. Auf dem Weg durch das Industriegebiet wurden die Wände und Mauern immer nackter und schwärzer, und die Fenster der Häuser waren nur noch Luftschlitze. Hinter den Schlitzen rumpelten und rumorten mächtige Maschinen, manchmal schwoll die Lautstärke immer weiter an, bis sie in einem donnernden Rülpser ihren Höhepunkt erreichte. Astor lernte schon bald, dass sie zur Seite springen und ihr Gesicht bedecken musste, wenn nach einem dieser Rülpser ein Schwall giftiger Abgase aus den Luftschlitzen strömte.
Ebenfalls hatte sie schnell gelernt, zur Seite zu springen, wenn die pilzförmigen Hydranten in den Straßen in regelmäßigen Abständen flüssigen Schlamm ausspien. Die Fertigungsprozesse im Industriegebiet verliefen anscheinend in ähnlichen Zyklen wie die Verdauungsprozesse großer Tiere.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen Rangierbahnhof. Astor hatte schon früher Eisenbahnschienen gesehen, aber niemals ein solches Gewirr von Gleisen. Die unendliche Menge an Weichen und Kreuzungen aus glänzendem Eisen war schier unvorstellbar.
»Slumtown ist auf der anderen Seite«, informierte Verrol sie.
Im Zentrum des Rangierbahnhofs sahen sie Frachtzüge und Lokomotiven sowie Männer, die sich zwischen den Dampfwolken hin und her bewegten. Die Männer waren wegen der Karbidlampen, die sie an ihren Helmen trugen, gut zu erkennen. Die Lokomotiven sahen aus wie plumpe schwarze Monster, mit ihren bauchigen Schornsteinen und kuppelförmigen Dampfkesseln.
Verrol hatte einen Punkt weiter unten im Gelände gewählt, an dem sie im Dunkeln auf die andere Seite wechseln konnten. Auf der anderen Seite kündigte sich Slumtown durch eine Reihe riesiger Schlackehalden an. Es gab es keine Straßen mehr, nur noch matschige Wege.
»Wir werden hier doch auf keine Veteranen stoßen, oder?«, fragte Astor ängstlich.
»Nein. Die kommen nicht in die Slums.«
Er führte sie an Wellblechplatten
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