Song of the Slums
Verrol sich tanzend so nah zu ihr beugte, dass sie ihn nicht länger ignorieren konnte. Sie konnte ihn nicht hören, aber die Worte erkennen, die sein Mund formte:
Stop! Jetzt! Stop!
Sie wollte nicht aufhören, aber ihr musikalischer Instinkt sagte ihr, dass das Stück sein Ziel erreicht hatte. Vielleicht hatte es etwas mit den Gitarristen zu tun. Sie erhöhte ihren Schlagrhythmus, schloss alle Drums ein und brachte das Stück mit einem gewaltigen finalen Krach zu Ende – so gewaltig, dass sie die federnden Drumsticks nicht mehr halten konnte und diese drei Meter weit wegflogen.
Sie wischte sich einige nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Alle starrten sie an.
• 26 •
Die Stille war nervenaufreibend. Astor sah den Schock in allen Augen und wünschte, sie könne in einem Loch in der Erde verschwinden. Sie hatte sich zum Affen gemacht.
Am liebsten hätte sie sich entschuldigt, aber die Entschuldigung blieb ihr im Halse stecken, denn was sie von sich preisgegeben hatte, konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Sie gab dem Jungen mit dem Irokesenschnitt ein Zeichen und erhob sich von der umgedrehten Kiste. Er schüttelte nur mit dem Kopf und machte keine Anstalten, seinen Platz wieder einzunehmen.
»Was habe ich getan?«, fragte sie Verrol leise. »Habe ich sie beleidigt?«
»Ähm, nö«, er grinste. »Eher beeindruckt, würde ich sagen.«
Dann traten zwei Mädchen aus der Menge vor. Sie hatten die Drumsticks aufgefangen – und gaben sie nun zurück. Nicht aber dem Jungen mit dem Irokesenschnitt, sondern ihr. Zweifel und Hoffnung fochten einen verworrenen Kampf in ihrem Kopf aus.
»Das war das Beste aller Zeiten«, sagte der junge Strumgitarrist.
Astor konnte nicht glauben, was sie hörte. »Es hat dir
gefallen
?«
»Mehr als gefallen«, sagte der ältere Blechgitarrist. »Granny auch. Sieh sie nur an.«
Granny Rouse hatte ihre Augen geschlossen und einen glückseligen Gesichtsausdruck. Sie wiegte sich hin und her, als spüre sie noch immer den Beat der Musik.
»Vielleicht sollten wir noch ein Stück spielen?«, schlug Verrol vor.
»Nein.« Der Junge mit dem Irokesenschnitt hob warnend die Hand.
»Wartet«, sagte jemand anders.
Ganz plötzlich war Granny zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geworden. Alle beobachteten sie, umringten sie erwartungsvoll.
»Was ist?«, fragte Astor.
»Vielleicht fällt sie in Trance«, erklärte eines der zwei Mädchen.
»Es ist eine Vision«, sagte der Blechgitarrist. »Sie hat eine ihrer Visionen.«
Einige Gangmitglieder sprangen Granny rechtzeitig zur Seite, bevor die Beine unter ihr nachgaben. Sie wurde unter den Achseln gehalten und hing dort, als habe sie keine Knochen im Leib.
»Was ist sie, eine Art Schamanin?«, fragte Verrol.
»Sei still«, sagte der Junge mit dem Irokesenschnitt.
Auf einmal flogen Grannys Augenlider nach oben. Ihre Augäpfel hatten sich so weit nach oben gedreht, dass nur noch das Weiße sichtbar war. Niemand gab einen Ton von sich, niemand bewegte sich. Zwei Minuten lang war alles erstarrt. Granny atmete nun sehr schnell und flach. Dann schlossen sich ihre Augenlider wieder, und die Erstarrung löste sich.
»War lange diesmal«, sagte der Strumgitarrist.
»Ich wette, es ging um die Musik«, sagte der Junge mit dem Irokesenschnitt.
Überall setzten Gespräche ein, bis Granny die Augen öffnete. Nun waren ihre Augäpfel wieder an Ort und Stelle.
»Was hast du gesehen, Granny?« Die Frage erscholl gleichzeitig aus Dutzenden von Mündern.
Granny stand wieder auf ihren eigenen zwei Beinen, und auch ihre Atmung hatte sich normalisiert. Als sie sprach, hörte sich ihre Stimme ein wenig rau und heiser an.
»Ich habe gesehen, wie die Gangmusik die Welt erobert. Ich habe Plakate gesehen und Schlagzeilen in Zeitungen und Menschen, die Schlange stehen, um die Auftritte zu sehen.
Gangmusik
…
Gangmusik
… alle sprachen von nichts anderem. Sie breitete sich aus, weit über die Slums hinaus. Und über Britannien hinaus. Sogar Ausländer sprachen in fremden Sprachen davon. Hunderte Millionen von Menschen. Die ganze Welt war verrückt nach unserer Gangmusik.«
Erstaunte Pfiffe waren zu hören und vereinzelte Jubelrufe.
»Was bedeutet das für uns?«, fragte eines der Mädchen, das die Drumsticks aufgefangen hatten.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Granny. »Aber auf jeden Fall bedeutet es, dass die Leute die Slums nicht
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