Song of the Slums
Leben zu erwachen?
Ein anderer Verrol … und vielleicht auch eine andere Astor. Ihr war bewusst, dass sie gerade dabei war, in eine neue Phase ihres Lebens einzutreten. Alles hatte sich verändert, als sie auf das Gut ihres Stiefvaters gezogen waren, und alles hatte sich erneut verändert, als sie nach Brummingham gebracht worden war und die Misere in Swale House ihren Lauf nahm. Aber diese jüngste Veränderung war sicherlich die größte von allen.
Hoffentlich bedeutete sie auch einen Schritt vorwärts. Die jungen Leute von Grannys Gang
mussten
einfach eine Verbesserung gegenüber den Swale-Kindern darstellen. Und dann war da natürlich noch Verrol, um das Leben interessant zu gestalten. Sie würde herausbekommen, was und wer er war, und wenn es das letzte wäre, dass sie tat.
Sie lag noch immer in ihrem Schlafsack, als Verrol kam, um nach ihr zu sehen. Wegen seiner Größe musste er den Tunnel fast auf Knien durchqueren, doch selbst in dieser unnatürlichen Fortbewegungsart strahlte er Lässigkeit und Selbstsicherheit aus.
»Ah, du bist wach.« Er grinste auf sie herab. »Granny hat die Gang zu einer Versammlung zusammengerufen, und sie möchte, dass wir dabei sind.«
»Meinst du, sie wird uns in die Gang aufnehmen?«
»Vermutlich bekommen wir eine Probezeit. Das hatte sie mir ja bereits angeboten.«
»Hmm. Werden wir ihr erzählen, dass die Swales hinter uns her sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Besser nicht.«
»Vielleicht haben sie die Jagd auch schon abgeblasen.«
Wieder schüttelte er seinen Kopf, diesmal sehr bestimmt. »Ganz gewiss nicht. Die werden weitersuchen. Du bist nach wie vor eine Gefahr für sie.«
»Wieso eigentlich immer noch?«
»Na, du könntest deinem Stiefvater ja einen neuen Brief schreiben …«
»Meinst du, ich sollte?«
Er dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Nein, ich denke, wir sollten uns versteckt halten und eine Zeitlang nichts von uns hören lassen. Zumindest aber, bis wir die Probezeit hinter uns haben und richtige Gangmitglieder geworden sind.«
»Wir könnten ja auch einer anderen Gang beitreten.«
»Es ist überall das Gleiche. Wir müssen erst einmal ihr Vertrauen gewinnen.«
»Warum trauen sie uns denn nicht?«
»Nicht uns.
Dir
.«
Astor fühlte sich, als habe sie eine Ohrfeige verpasst bekommen. »Und was ist falsch mit
mir
?«
»Du kommst aus einer anderen Gesellschaftsschicht. Höher. Vornehm.«
»Und das merkt man wegen meines Nachnamens?«
»Wegen deiner guten Manieren, wegen der Art, wie du sprichst, wegen allem an dir. Es ist einfach unübersehbar.«
Das musste sie erst einmal verdauen. Und nach einer Weile verärgerten Schweigens sagte sie schnippisch: »Ach, und du gehörst also zu derselben Schicht wie die, ja?«
Achselzuckend antwortete Verrol: »Du hast ja gehört, was ich letzte Nacht gesagt habe. Ohne dich werde ich kein Mitglied von Grannys Gang.«
Astor fühlte sich wieder besser, aber sie wollte das Thema nicht sofort fallen lassen. Sie war stolz auf ihren familiären Hintergrund. Die Vances waren zwar nicht mehr das, was sie einst waren, nämlich Landbesitzer, nichtsdestoweniger gehörten sie noch immer zum Landadel. Und die Dorrins – egal wie sehr sie ihren Stiefvater verabscheute – gehörten zu derselben Schicht.
»Du magst uns nicht, oder?« fragte sie. »Du magst keine guten Manieren oder höflichen Umgangsformen?«
»Nicht besonders.«
»Als du für meinen Stiefvater gearbeitet hast, musst du jede Minute dort gehasst haben.«
»Nicht aus den Gründen, die du meinst.«
»Du magst den Adel nicht, und du magst die Plutokraten nicht. Du hast was gegen alle und jeden.«
»Gegen alle – außer gegen Bedienstete, Slumkinder, Fabrikarbeiter und Landarbeiter.« Er grinste. »Ich habe auch nichts gegen Handwerker, Buchhalter, Bergarbeiter, Matrosen, Schullehrerinnen, Ingenieure …«
Astor hatte das Gefühl, er machte sich über sie lustig, deshalb unterbrach sie ihn barsch: »Wie auch immer, wir sollten uns jetzt zu Granny auf den Weg machen.«
»Ja.«
»Und wir werden nichts von den Swales sagen.«
»Nein.«
»Wir werden nicht einmal an die Swales denken.«
Er zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts.
»Dreh dich um«, befahl sie.
»Was?«
»Na, ich muss mich doch anziehen, oder?«
Verrol drehte ihr den Rücken zu.
»Geh weiter weg.«
Noch immer gebeugt, bewegte er sich etwa sechs Schritte in Richtung des Tunneleingangs. Astor schlängelte sich aus dem Schlafsack und zog sich an. Sie wollte
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