Sonne, Schnee und Tote
gelaunt setzte er sich in
seinen alten Kombi und fuhr nach Hause.
***
23:04 Wilhemina-Pier, Restaurant Golden
Dragon
Draußen
war die Nacht hereingebrochen. Das schlechte Wetter hatte sich nach und nach
verzogen und jetzt hing kaum noch eine Wolke am Himmel. Wäre die intensive
Beleuchtung der Großstadt nicht gewesen, hätte man freie Sicht auf den
Sternenhimmel bei Neumond gehabt. Die Helligkeit der Stadt war jedoch nicht
Rogelios Grund, wieso er keinen Blick auf die Schönheit warf, die sich hinter
dem Fenster ausbreitete.
„Verstehst
du mich nicht?! Der Alte hat Ruben auf dem Gewissen“, schrie er ins Telefon. Er
schwitzte, das Blut war ihm in den Kopf geschossen, die Ohren gerötet. Die
Situation war mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Und doch hoffte er
vergeblich auf Mitleid vom anderen Ende der Welt.
„Verluste
waren abzusehen, Bruderherz“, entgegnete seine Schwester teilnahmslos.
„So
war das nicht geplant!“
„Vieles,
was du in letzter Zeit angepackt hast, lief nicht so, wie du dir das vorgestellt
hast. Das entbindet dich nicht von deinen Pflichten. Also, was ist mit der
letzten Lieferung? Wo ist sie? Mutter ist seit ein paar Stunden zurück. Sie
weiß von nichts, noch nicht. Ich habe ein Telefonat unseres Kunden in Rotterdam
abgefangen und ihm versichert, dass es lediglich unbedeutende
Lieferschwierigkeiten sind. Er gewährt uns noch maximal drei Tage Aufschub.“
„Es
ist nicht da. Wir können es nicht finden. Vermutlich ist es verbrannt“, sagte
Rogelio hitzig.
„Verbrannt?
Santa Maria! Hoffe lieber für uns alle, dass das nicht stimmt. Wenn wir das
Geld von Petr Stojic nicht bekommen, haben wir alle ein Problem. Du weißt um
die Bedeutung von Petr für unsere Geschäftsbeziehungen, nehme ich an?“
„Ja
doch! Zigmal habt ihr es mir erklärt! Er ist unser Tor nach Europa, unsere
Geldquelle, unser Schlüssel zur Macht in der Heimat, unser Segen, ja, ja, ja!
Das ändert nichts an der Situation. Wie schnell könnt ihr eine neue Lieferung
auf den Weg bringen?“
Bei
diesen Worten Rogelios lachte seine Schwester laut auf.
„Eine
neue Lieferung? Rogelio, bist du sicher, dass du den Ernst der Lage erkannt
hast? Es wird keine neue Lieferung geben. Entweder du treibst die zwanzig
Kilogramm Kokain auf, die mit der letzten Fracht gekommen sind oder du bist
mausetot.“
„Aber
es ist nicht da.“ In diesem einen Satz lag eine Hilflosigkeit, die Rogelio nie
zuvor offenbart hatte. Er wusste einfach nicht weiter. Erneut war alles
schiefgegangen und er hatte diesmal beim besten Willen keine Erklärung, wieso.
Sie
hatten sich, nachdem der Polizist das Weite gesucht hatte, Zugang verschafft,
sich auf die drei Kühlräume in Hadoshs Lagerhaus aufgeteilt und nach dem Zeug
gesucht. Dann war der Gebäudealarm ausgelöst worden. Rogelio wusste beim besten
Willen nicht, wie das geschehen war. Schon zu diesem Zeitpunkt war er unruhig
geworden und hatte die Suche im stinkenden, kleinen Kühlraum nur widerwillig
fortgesetzt. Das hatte er getan, bis sie die Schüsse gehört hatten. Margez und
er waren bei diesem ersten Anzeichen von Gegenwehr geflohen. Ruben hatte es
nicht nach draußen geschafft. Und als es auch eine halbe Stunde später kein
Lebenszeichen von ihm gab, stand für Rogelio außer Frage, dass es ihn erwischt
hatte.
„Hadosh
ist nicht dumm, Rogelio“, beharrte seine Schwester auf die Erledigung der
Aufgabe. „Er wird nicht zugelassen haben, dass der Lieferung was passiert ist,
aber er ist ein sturer Esel. Er weiß, wie wertvoll die Ware ist. Also stell dem
Alten den ganzen Laden auf den Kopf. Wenn nötig, spreng ihm die Hütte unter dem
Arsch weg. Alles, was zählt, ist, dass Stojic bekommt, worauf er wartet.“
Auf
eine weitere Erwiderung wartete sie gar nicht erst und hatte aufgelegt, bevor
Rogelio auch nur den Mund aufbekam.
***
In
einem kleinen Raum unterhalb von Hadoshs Lagerhaus lag Karim Abusif, mehr tot
als lebendig in absoluter Dunkelheit. Immer wieder versank er in wirren Träumen
und wenn er daraus erwachte, fand er sich in der gleichen Situation wieder, wie
zuvor. Zu schwach, auch nur eine Handvoll Muskeln zu bewegen, um sich irgendwie
aufzurichten, lag er auf dem Rücken. Wie ein Käfer, der es nicht schaffte,
zurück auf die Beine zu kommen, blieb ihm nichts übrig, als auf den früher oder
später unvermeidlich eintretenden Tod zu warten. Immerhin hatten sie, wer auch
immer ihn hier weiter festhielt, die Kühlung des Raumes außer Kraft
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