Sonne, Schnee und Tote
gesetzt.
Die Temperatur hatte sich normalisiert und mittlerweile kehrte die Wärme zurück
in Karims Gliedmaßen. Der Schmerz, der von den wiedererwachenden Bereichen
ausging, war unbeschreiblich. Dazu kam, dass Karims Gehirn träge geworden war
und das Schmerzempfinden in einer Weise beeinflusste, dass er permanent das
Gefühl hatte, jemand würde aus dem Körperinneren mit dumpfen Hammerschlägen auf
stumpfe rostige Nägel gegen Finger und Zehen, Hände und Füße, Arme und Beine
schlagen. Dazu plagte ihn ein stechendes Kribbeln überall auf der Haut, dem er
nur entkam, wenn sein Bewusstsein erneut für einige Stunden, manchmal auch nur
für ein paar Minuten in eine Traumwelt fiel, in der es all den Schmerz, den er
erleiden musste, nicht gab. Im Moment war er wach und bei klarem Verstand. Er
hatte sich damit abgefunden, dass es nur noch eine flüchtige Hoffnung auf
Rettung gab, einem Silberstreifen am Horizont gleich und vielleicht nicht
einmal das, und doch war er noch nicht bereit, zu sterben. Seine derzeitigen
Gedanken galten Großmutter Aiche, die er noch immer hilflos und verloren in
seiner Wohnung glaubte. Er kam sich kümmerlich und schuldig vor. Er hatte sich
um sie gekümmert, die Verantwortung lag allein auf seinen Schultern. Jahrelang
hatte er diese Last mit Freuden getragen, doch jetzt schalt er sich einen
Idioten, weil es außer ihm niemanden gab, der sich um das Leben seiner
geliebten Oma scherte. Er hätte dafür Sorge tragen können, dass dem nicht so
war. Ja, vielleicht sogar jemanden um Hilfe bitten müssen, wäre er ein
verantwortungsvoller Enkelsohn gewesen. Niandee, seine Nachbarin zum Beispiel,
das Mädchen, das er so reizend fand, hätte er bitten können oder einen seiner
Brüder, obwohl er, seit er mit Aiche unter Flüchen und Beleidigungen von der
Familie weggezogen war, keinen Kontakt mehr zu ihnen pflegte. Irgendetwas
jedenfalls hätte er unternehmen müssen. Er hatte es nicht getan und das war
töricht gewesen. Bei den zwielichtigen Geschäften, die er unter der Hand mitgetragen
und unterstützt hatte, hätte er davon ausgehen müssen, dass eher früher als
später irgendetwas schieflaufen würde.
Seine
Kehle war trocken, genau wie Lippen, Zunge und Mundraum. Eine Ewigkeit schien
vergangen zu sein, seit er den letzten Schluck Wasser genommen hatte und
vielleicht lag er mit dieser Einschätzung gar nicht so falsch. Quasi
abgeschnitten von der Außenwelt, blind und ohne jegliches Zeitgefühl, zeigte
ihm sein Körper, dass er bereits zu lange hier war und das bedeutete, dass für
seine Großmutter jede Hilfe zu spät käme, selbst wenn er es irgendwann hier
raus schaffte.
Der
einzige Trost, der ihm in diesen Minuten blieb, war der feste Glaube daran, sie
bald in einer anderen Welt wiederzusehen. Einer Welt, in der die Schmerzen
verschwunden sein würden. Einer Welt ohne Sorgen und Trauer. Einer Welt, die
ganz anders sein würde als die, in der er gefangen war, frei vom Unglück des
Irdischen.
Noch
immer verstand er nicht, wer ihn in diese Lage gebracht hatte und konnte sich
nur dunkel ausmalen, warum. Vermutlich würde er sterben, ohne es je zu
erfahren. Ob es ein gerechter Tod wäre, wagte er nicht zu hinterfragen. Alles
im Leben hatte Konsequenzen. Die Konsequenz daraus, dass er sich mit den
falschen Leuten eingelassen hatte, war unzweifelhaft die Lage, in der er sich
befand. Es war ein Ärgernis, denn in ein paar Wochen hätte vielleicht ein ganz
anderes Leben auf ihn gewartet. Ein Leben weit fort von den heiklen Geschäften,
die er billigend in Kauf genommen hatte, um sich, seine Großmutter und seinen
großen Traum durch eine schwierige Zeit zu bringen. Das Problem war, die
Einsicht kam zu spät, viel zu spät. Und so blieb der letzte Gedanke, der ihm kam,
bevor er erneut zurück in die Bewusstlosigkeit stürzte, der, dass wenn er
tatsächlich hier starb, niemand herausfinden würde, was er über die dubiosen
Geschäfte in Hadoshs Lagerhaus und die ganzen linken Dinger, die hier abliefen,
wusste. All sein Wissen darüber würde unausgesprochen bei ihm bleiben. Noch
jedoch war er nicht gestorben und er schwor sich, sollte die eisige
Dunkelkammer nicht sein Grab werden, er würde reden.
Kapitel 7
Dienstag 22. Juni
Der
Dienstag bescherte Rotterdam bei Weitem besseres Wetter, als es der Vortag
getan hatte. Nur wenige zähe Nebelschwaden hielten sich in den frühen
Morgenstunden in den Straßen, vermochten aber nicht zu verschleiern, dass ein sonniger Sommertag bevorstand.
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