Sonne, Wind und Mord (German Edition)
die Augen. Im Gegensatz
zu ihrem ersten Erwachen kehrte die Schärfe diesmal schnell in ihren Blick
zurück. Sie erkannte, dass sie auf einem gepolsterten Stuhl saß, ganz allein in
einem Raum, der ihr allzu bekannt vorkam. Der schwarze Schreibtisch, die
Aktenschränke. Ein Tablett mit gespülten Sektgläsern und drei leere
Sektflaschen neben der Tür fielen ihr ins Auge. Es war ein Büroraum. Sie war
schon einmal hier gewesen, da war sie ganz sicher.
Obwohl sie höllische Kopfschmerzen hatte,
versuchte sie aufzustehen. Erfolglos.
Erst jetzt registrierte sie, dass man sie an
den Stuhl gefesselt hatte. Panik kochte in ihrem Innern hoch, wie Lava in einem
Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
Sie war gefangen! Schon wieder!
Mit Schrecken kamen ihr die Bilder dieses
Nachmittags in den Sinn. Das fiese lüsterne Gesicht des Italieners, seine
Hände. Linda schüttelte die Gedanken heftig ab, ein kalter Schauer trieb ihre
Nackenhärchen in die Senkrechte. Sie sträubte sich gegen die erneute
Zwangslage, riss an den stramm sitzenden Riemen um ihre Hand- und Fußgelenke.
Das extrem dünne, dafür umso stabilere Seil gab keinen Zentimeter nach, schnitt
ihr stattdessen tief in die Haut. Es tat weh. Linda ignorierte den Schmerz.
Verzweiflung lieferte sich einen erbitterten Kampf mit wilder Entschlossenheit.
Da sich auch nach mehreren Minuten der
erfolglosen Befreiungsversuche nichts an ihrer Lage änderte und sie noch immer
ganz allein dort saß, nicht wusste, was hinter all dem steckte, tat sie das
Einzige, was ihr in dieser Situation noch einfiel. Sie begann, um Hilfe zu
rufen. Erst leise dann immer lauter, bis sie aus vollem Halse schrie.
Als die Türklinke heruntergedrückt wurde und
sich die rote Bürotür langsam öffnete, erschrak Linda zutiefst. Gespannt hielt
sie die Luft an. Und beinahe genauso erleichtert atmete sie durch, als ein
vertrautes Gesicht in dem Raum erschien, den sie mittlerweile wiedererkannt
hatte. Sie saß in Edgar Van Kessners Büro und der Mann, der soeben zur Tür
hereingekommen war und der sie jetzt mit sorgenvoller Miene ansah, war kein
Geringerer als Jon Ahnheem, der Informatiker.
Gott sei Dank!
„Hallo… Linda“, sagte er, setzte ein Lächeln
auf und schob hinterher. „Schön dich zu sehen.“
***
Leiter Nummer dreiundsechzig verlangte
Inspektor Bloemberg alle verbliebenen körperlichen Kräfte ab. Die Leiter ragte
nicht weniger als 50 Meter über ihm in einen Schacht, dessen Ende er nur
schemenhaft durch das matte Blinken der Luke am Ende wahrnahm. Schon beim Aufstieg
der ersten zehn Meter stellte er fest, dass ihm seine Hände nur noch
widerwillig gehorchten, tiefblau waren sie und hatten kaum noch Gefühl. Sein
ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung und anhaltender Kälte. Jede weitere
Sprosse, die er erklomm, zog einen reißenden Schmerz in den Oberschenkeln und
Waden nach sich. Kees wusste, dass er am Ende seiner Kräfte war und dass er -
so sehr sein Kopf und sein Wille auch versuchte, die müden Knochen anzutreiben
- bald ganz einfach nicht mehr weiter konnte. Luke Nummer dreiundsechzig war
seine letzte Chance, ob er allerdings überhaupt dort ankam, stand noch einmal
auf einem anderen Blatt geschrieben. Die völlige Entkräftung ließ seinen Blick
verschwimmen und seine Konzentration litt an dem zunehmenden Sauerstoffmangel,
den seine keuchenden Lungenflügel nicht ausreichend kompensieren konnten. Kees
verlor zunehmend die bewusste Kontrolle über seine Bewegungen. Er funktionierte
in diesem Moment einfach nur noch. Setzte einen Fuß über den anderen, griff mit
den tauben Händen eine nach der anderen Sprosse. Das Unglück war
vorprogrammiert. Irgendwo zwischen dreißig und vierzig Metern Höhe in dem engen
Schacht griff Bloembergs linke Hand am nächsten Holm vorbei, seine andere Hand
rutschte ab. Er verlor völlig den Halt. In der Sekunde, da er sich seines
Fehlers bewusst wurde, war es auch schon zu spät. Sein Körper fiel nach hinten.
Kees fürchtete das Ende, einen ungebremsten Absturz über mehr als dreißig
Meter.
***
Ronald Rudjard saß seit einer ganzen Weile
wieder im Auto. Er hatte die Standheizung eingeschaltet und wartet ungeduldig
auf ein Lebenszeichen von den beiden anderen. Da sich die Warterei jedoch mehr
und mehr in die Länge zog, wurde der junge Mann zusehends unruhiger. Um seine
Nervosität in den Griff zu bekommen und sich zu beruhigen, griff er nach
geraumer Zeit wie selbstverständlich in seine Hosentasche und zog ein
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