Sonnenfinsternis: Kriminalroman
Jimmy-Sommerville-Video. Ich folgte ihm die Rolltreppe hinauf zur Bahnhofshalle, über den Bahnhofsplatz und dann weiter der Limmat entlang bis zur Rathausbrücke. Dort überquerte er den Fluss und ging am Rathaus vorbei geradeaus die Marktgasse hoch ins Nieder dorf, Zürichs Ausgangs- und Vergnügungsviertel. Was zum Teufel sollte das Ganze?
Kurz vor der Elsässergasse bog er links in Richtung Stüssihof ab und verschwand nach ein paar Schritten plötzlich rechts in einem kleinen Hotel , welches mir n ich t unbe kannt war : Das Goldene Schwert. Bekannt war es vor allem wegen des Etablissements im ersten Stock . Das T&M war Zürichs älteste r Schwulen k lub. Die Initialen im Namen, gemäss Mina in der Szene oft als ‹Tüll und Müll› verballhornt, waren eigentlich die Anfangsbuchstaben der Namen zweier Travestiestars aus der Gründerzeit , Tamara und Marisa. Ich kannte den Schuppen , weil ich mit Mina ab und zu dorthin ging, und durch sie kannte ich auch die Dame, die gerade vor dem französischen Buchladen im Nachbar ge bäude eine Zigarette rauchte und wild gestikulierend in ihr Handy sprach: Sigrid Maurer, genannt Sigi, Mitbesitzerin des Klubs und bekannte Zürcher Aktivistin für Schwulen- und Lesbenrechte .
Ich wartete an der Ecke , im Schatten einer Weinbar. Was wollte Grubenhauer im T&M ? Vielleicht plante seine Spinnertruppe einen Anschlag ? In der von abstrusen Männlichkeitsidealen dominierten Naziskinszene waren Homosexuelle eines der Hauptfeindbilder. Ich erinnerte mich, wie mir Gunnar Neumann von der Attentatsserie gegen Londons Schwulenszene erzählt hatte, durch die Combat 18 bekannt und berüchtigt worden war. Schon die alten Nazis hatten Homosexuali tät als ‹entartetes› Verhalten angesehen, welches den männlichen Charakter des Volkes und damit die Leistungsfähigkeit des Staates bedrohe.
In diesem Moment raunte eine heisere Stimme neben meinem Ohr: «Sieh an, sieh an! Monsieur van Gogh! Lang ist’s her.»
Ich drehte mich um. «Hi, Sigi.»
Sie betrachtete kurz die Fäden und den dunklen Schorf an meiner Schläfe und fragte: «Ui, was ist denn d ir passiert?»
«Lange Geschichte.»
«Und was machst du hier? Wartest du auf Mina?»
«Nein.»
«Eine andere Frau?» Sie warf mir einen spöttischen Blick zu.
«Nein, auch nicht.»
« Und ich dachte, bei euch Heten machos heisst es immer nur cher chez la fem me .»
Ich lachte. «Bei euch Lesben doch auch, oder?»
«Genau! Du hast es erfasst, mein Lieber!»
Ich überlegte kurz und fragte dan n unverblümt : «Könntest du mir einen kleinen Gefallen tun, Sigi?»
«Und was?» Ihr Gesicht nahm einen skeptischen Ausdruck an.
«Nichts Grosses, wirklich. Der Kerl, den ich suche, ist gerade in deinen Klub gegangen. Denke ich.»
« Kerl? » Sie schaute mich überrascht an.
« Ja, Kerl. »
«Wechselst du etwa die Seiten?»
«Nein. Aber es ist wichtig.»
«Na schön. Ist er im e rste n oder zweite n Stock?»
Im zweiten Stock war ein Klub mit dem lautmalerischen Namen AAAH! , welcher i m Gegensatz zum T&M , das mehr auf Travestie setzte, Besucher vor allem mit seinem täglich wechselnden, moderneren Musikprogramm an lockte . Und mit seinem Darkroom.
Ich kratze mich am Kopf: «Keine Ahnung.»
«Soll ich in beiden mal nachschauen?»
«Ja, das wär echt super.»
Sie machte einen Hofknicks und sagte spöttisch: «Stets zu Diensten, Monsieur. Wie sieht er denn aus?»
Ich beschrieb ihr Grubenhauers ungewöhnlichen Aufzug und erwähn te vor allem die Narbe und die Baskenmütze.
«Also schön», sagte sie, «warte hier. Ich bin gleich zurück.»
Knappe fünf Minuten später war sie wieder da und verkündete ohne Um schweife: «Ja, er ist da drin.»
«Wo?»
« Im e rste n Stock. An der Bar.»
«Bist du sicher?»
«Klar bin ich sicher, ich sehe ihn ja nicht zum ersten Mal. Das ist Marc.»
Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Etwas dümmlich fragte ich deshalb: «Marc?»
«Ja, Marc.»
«Marc was?»
«Keine Ahnung. Seinen Nachnamen kenne ich nicht. Er ist alle paar Wochen mal hier, immer etwa gleich angezogen. Ein wenig schüchtern und verklemmt, aber völlig harmlos.»
«Du machst Witze!» Ich konnte es kaum glauben. Grubenhauer war schwul ?
Sigi konnte meine Reaktion nicht nachvollziehen und fragte irritiert: «Überhaupt nicht. Wieso denkst du das?»
«Na, weil…» Ich überlegte kurz, wo ich anfangen sollte. Dann zeigte ich auf die Wunde an meiner Schläfe und fuhr fort: «Weil das hier ein Geschenk
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