Sonnenfinsternis: Kriminalroman
nicht der Typ dafür zu sein. Etwas Aufmunterndes sagen? Aber was? Hilf l os sass ich da und wartete darauf, dass sie sich beruhigte.
Nach einigen Minuten wurde das Zucken der Schultern seltener und die Tränen versiegten allmählich. «Entschuldigung», sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab.
Ich gab keine Antwort. Nichts schien mir angemessen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit der Frau umgehen sollte. Wie den meisten Männern waren mir weinende Frauen ein Gräuel. Böse Zungen behaupteten ja, dass manche Exemplare des schönen Geschlechts diese Tatsache ganz bewusst als Verhand lungs strategie einsetzten, aber bei Jasmina Hasanović lag die Sache anders, das konnte ich fühlen. Ich hatte den eigenartigen Eindruck, die tiefe Trauer, welche sie durchflutete, fast sehen zu können, wie wenn eine bläuliche Aura um sie herum schimmerte. Die Frau brauchte eine Therapie, so viel war klar.
Sie nahm ein Papiertaschentuch hervor und tupfte sich damit die Augenwinkel ab. Dann schnäuzte sie sich mehrmals die Nase, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und liess das Taschentuch achtlos neben sich auf den Boden fallen. «Entschuldigung», sagte sie nochmals.
Sanft wiederholte ich meine Frage von vorhin: «Weshalb wollten Sie mich sehen, Frau Hasanović?»
Sie seufzte tief und fixierte mich dann mit ihrem unergründlichen Blick. «Ich habe Ihnen nicht alles gesagt. Leider.»
«Möchten sie es mir denn jetzt sagen?»
Sie nickte. Mit der kleinen Geste schien neue Energie über sie zu kommen. Sie streckte sich ein wenig, und ihr Gesicht nahm ein en entschlossene n Ausdruck an , als sie unvermittelt sagte: «Mein Mann hat andere Frau.»
«Sie meinen, er hatte eine Affäre?»
« Da. Mit einer anderen Frau.»
Ich fragte das Offensichtliche. «Woher wissen Sie das?»
Sie wandte den Kopf ab. Ich schwieg. Sie schwieg. Déjà-vu .
Schliesslich stand ich auf und fragte: « Ist es Ihnen lieber, wenn ich gehe?»
«Nein, bitte! Bleiben Sie!»
«Na gut, aber dann müssen Sie wohl oder übel mit mir reden.» Seufzend liess ich mich wieder auf da s Sofa sinken .
Sie räusperte sich, und dann brach plötzlich alles aus ihr heraus. Anscheinend war die Eisprinzessin nicht so ahnungslos, wie es zuerst schien. Ihr Mann war seit einigen Monaten oft sehr spät nach Hause gekommen, vielfach erst, wenn sie schon geschlafen hatte. Zuerst hatte sie ihm geglaubt, dass er lediglich sehr viel Arbeit habe, aber als es immer schlimmer wurde und mehr und mehr Abende, ja sogar ganze Wochenenden betroffen waren, hatte sie be schlossen, ein ernstes Wort mit seinem Chef zu reden. Zu diesem Zweck war sie eines Abends zum Seefeld hinaus gefahren. Statt an der richtigen Haltestelle auszusteigen, war sie aber im Tram eingeschlafen und erst beim Bahnhof Tiefenbrun nen wieder aufgewacht. Als sie schliesslich zurück an der Fröhlich strasse, ihrem eigentlichen Ziel, angekommen war und gerade aus steigen wollte, hatte sie aus den Augenwinkeln unter den Wartenden ein bekanntes Gesicht gesehen. Mujo. Er war einen Waggon weiter vorne in die gleiche Strassenbahn eingestiegen, ohne sie zu bemerken. Das hatte sie befremdet, und ohne genau zu wissen, weshalb, blieb sie sitzen und beobachtete ihn, statt zu ihm hin zu gehen. Beim Bellevue hatte er dann auf die Linie Elf gewechselt. Wieder war Jasmina einen Wagen hinter ihm eingestiegen, ohne dass er sie bemerkt hatte.
Ich unterbrach sie: «Hat er gelesen?»
« Da », antwortete sie, «er liest meist unterwegs.»
Ein Punkt für die Beobachtungsgabe der alten Frau Schmied.
Jasmina fuhr mit ihrer Geschichte fort. Die Fahrt im Elfertram hatte eine ganze Weile gedauert, vorbei am Hauptbahnhof und weiter Richtung Norden über den Bucheggplatz nach Oerlikon, und da sie nicht gewusst hatte, wohin die Reise ging, war es ihr natürlich noch länger vorgekommen. Beim Hallenstadion war Mujo dann schliesslich ausgestiegen.
Eine Sache kam mir komisch vor, und ich sagte: «Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber haben Sie eine Ahnung, weshalb er nicht beim Bahnhof Stadelhofen auf die S-Bahn gewechselt hat? Damit wäre er doch viel schneller in Oerlikon gewesen.»
Sie schaute mich verwundert an und überlegte einen Moment. Dann ant worte te sie nachdenklich: «Das weiss ich nicht. Aber wissen Sie, Mujo hasst Tun nels. Aus dem Krieg.»
«Wissen Sie auch, weshalb?»
«Nein, er spricht nie drüber.»
So langsam begann mich die Verwendung der Gegenwartsfo r m für ihren ver stor benen Mann zu
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