Sonnenfinsternis: Kriminalroman
musste grinsen. Der Mann gefiel mir. «Nun ja… ich war vor langer Zeit einmal Geschichtsstudent, und da sollte man ja meinen, dass ich von der Sache wenigstens mal gehört hätte.»
«Wie alt sind Sie?»
«Fünfunddreissig.»
«Dann haben Sie wann mit dem Studium begonnen, 1993? 1994?»
«1994.»
«Dann brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Die BBC machte die Sache erst 1992 publik, und die wissenschaftliche Forschung hat sich erst in den letzten Jahren systematisch damit beschäftigt.» Er betrachtete mich prüfend. «Was genau machen Sie beruflich, Herr van Gogh? Sind Sie Polizist?»
«Ex. Jetzt bin ich Privatermittler.» Ich klaubte meine Brieftasche hervor und zeigte ihm meine Mitgliedschaftskarte für den SPPK. Dazu erklärte ich ihm wie üblich, dass Zürcher Privatermittler keine Pseudopolizeimarken wie im Fernsehen trugen. Er gab sich damit zufrieden.
«Tragen Sie eine Waffe?»
Ich nickte, drehte mich zur Seite und hob meine Windjacke ein wenig.
Er überraschte mich mit der Frage: «Eine Beretta?»
Etwas verdutzt antwortete ich: «Genau, eine 3032 Tomcat.»
«Wenig Mannstopperwirkung, aber einfach zu verbergen.» Dann be merk te er meinen verdutzten Gesichtsausdruck und fügte mit einem halb entschuldigenden Achselzucken hinzu: «Vor meinem Studium war ich einige Jahre lang beim Van Doos .»
Meine Miene wechselte von verdutzt zu fragend. «Van Duhs?»
« Van Doos . D-O-O-S. Eigentlich das Royal 22 e Régiment der kanadi schen Armee. Das Infanterieregiment von Quebec. Der Spitzname kommt von Vingt-Deux , der Regimentsnummer.»
«Ach so.»
«Haben Sie auch gedient?»
«Ja, auch bei der Infanterie. Ich war zwei Jahre lang Unteroffizier und fünf Jahre lang Offizier. Zugführer. Dann habe ich mich als Polizist dienstbefreien lassen.»
«Gut, dann muss ich Ihnen nicht alle militärischen Ausdrücke mit erklären.»
«Ich hoffe nicht.» Ich lehnte mich zurück und fragte: «Also, was können Sie mir über Gladio sagen?»
Die nächsten dreissig Minuten lang verblüffte mich Dr. Enteler mit einem faszinierenden, aus dem Stegreif gehaltenen Vortrag, der nur einmal kurz unterbrochen wurde, als eine Sekretärin ein Dokument zur Unterschrift vorbeibrachte.
GLADIO
Die Gladio-Affäre kam durch eine überraschende Enthüllung des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti ins Rollen. Dieser sagte am 24. Oktober 1990 vor einer parlamentarischen Kommission aus, der sogenannten Commissione Stragi, die verschiedene terroristische Anschläge in Italien untersuchte. Vor den erstaunten Parlamentariern gab er zu Protokoll, dass im Italien des Kalten Krieges eine geheime paramilitärische Organisation mit dem Codenamen Gladio einen von der amerikanischen CIA orchestrierten heimlichen Krieg gegen den Kommunismus geführt und massgeblich zur sogenannten Strategie der Spannung im Italien der Sechziger und Siebziger Jahre beigetragen hatte. In dieser als ‹Bleierne Jahre› bezeichneten Periode Nachkriegsitaliens operierten einerseits gewaltbereite linksextremistische Gruppierungen wie die Brigate Rosse, andererseits versuchten rechtsextremistische Gruppierungen die Bevölkerung gezielt zu verunsichern und damit die öffentliche Meinung gegen die politische Linke zu wenden. Dabei konnten sie die die Gladio-Infrastruktur nutzen und wurden vom militärischen Nachrichtendienst SISMI gedeckt.
Andreotti sprach von einer «Struktur der Information, Reaktion und Sicherung», zu welcher Waffenverstecke und Reserveoffiziere gehörten. Er händigte dem verdutzten Präsidenten der Kommission, Giovanni Pellegrino, eine Liste mit den Namen von 622 Zivilisten aus, die Teil des Gladio-Netzwerkes gewesen sein sollten. Ebenso gab er zu Protokoll, dass bereits 127 Waffenverstecke aufgehoben worden waren und dass Gladio nie in irgendwelche Bombenanschläge innerhalb Italiens verwickelt gewesen sei. Letzere Behauptung wurde allerdings im Nachhinein durch einen im Jahr 2000 veröffentlichten parlamentarischen Untersuchungsbericht widerlegt, der zum Schluss kam, dass im Verlauf der Strategie der Spannung, welche zum Ziel hatte, eine Regierungsbeteiligung der italienischen Kommunisten sowie teilweise auch der Sozialisten zu verhindern, eine ganze Reihe von Attentaten verübt worden waren. So explodierte im Dezember 1969 auf der Piazza Fontana in Mailand eine Bombe, die sechzehn Menschen tötete und neunzig verwundete. Ein halbes Jahr später folgte ein Anschlag auf den Treno del Sole, den Zug von
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