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Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)

Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)

Titel: Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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gelegentlichen Zirpen eines fremdartigen Insekts. Es war beunruhigend still.
    „Irgendetwas muss sich hier drin aufhalten“, sagte Schatten, „oder?“
    „Vielleicht warten die Menschen noch darauf, es mit Bewohnern zu füllen“, meinte Marina.
    „Was für eine Sorte Tier würde denn einen Ort wie diesen bewohnen?“, fragte die Eule.
    Angst juckte in Schattens Knochen. Irgendetwas an diesem Ort schien ihm schrecklich vertraut. Hatte er ihn vielleicht in einem seiner Träume gesehen? Oder hatte ihn jemand ihm beschrieben und mit Worten gemalt?
    Eine Schlingpflanze raschelte.
    Irgendetwas beobachtete sie. Schatten wusste das mit absoluter Gewissheit. Er neigte den Kopf und äugte mit Klang in die Schatten eines fleischigen Baums. Ein schmales, mit Dornen besetztes Blatt zitterte und sandte ein Rinnsal Wasser herab.
    Es war kein Blatt.
    Es war eine Nase, eine hoch aufgerichtete Nase, die sich zu einer scharfen, festen Spitze hochbog – und unterhalb der Nase ein Paar länglicher Kiefer wie die eines Hundes, die sich öffneten und eine doppelte Reihe scharfer Zähne enthüllten. Schatten sah zwei riesige, schwarze, starrende Augen, die langen spitzen Ohren, dazwischen einen Kamm aus borstigem, schwarzem Fell.
    Er wusste, was das war.
    Leise sprach er den Namen aus:
    „Goth.“

– 6 –
Der Ort der Wunder
    Er hatte es die ganze Zeit gewusst.
    Er hatte gesehen, wie Goth nach einem Blitzschlag leblos und brennend durch die Wolken hinabtrudelte – doch irgendwie hatte er nie daran gezweifelt, dass er überleben würde. Immer wenn er sich mit Marina gestritten und darauf bestanden hatte, dass Goth tot war, hatte er insgeheim doch die Überzeugung gehabt damit die Unwahrheit zu sagen. In seinen Träumen hatte er die ganze Zeit die Wahrheit gekannt.
    „Was ist das?“, hörte er die Eule mit erstickter Stimme fragen.
    „Das ist er“, war alles, was Schatten sagen konnte. Mit einem heftigen schnappenden Geräusch entfaltete Goth seine einen Meter breiten Flügel und peitschte damit die Blätter. Er stürzte sich herab wie etwas Zackiges, das aus dem Nachthimmel herausgerissen wurde, und ein paar Sekunden, bevor er über sie herfiel, blitzten in Schattens Innerem die Fragen auf: Wo waren die Metallringe, die einmal wie Girlanden Goths Unterarme geschmückt hatten? Und wie kam es, dass seine Flügel so unbeschädigt aussahen? Sie waren straff und stark, ohne jede Narbe. Hatten die Menschen ihn irgendwie geheilt?
    Schatten warf sich auf die Seite, aber der überraschte Eulenjunge war nicht so schnell. Goth schleuderte ihn auf den Rücken und nagelte ihn mit den Krallen beider Beine fest. Die Eule schlug mit den Flügeln nach Goth, aber der wich pfeilschnell mit dem Kopf aus und wartete auf eine Gelegenheit, um mit den Zähnen zuzupacken.
    „Lass uns abhauen!“, hörte Schatten Marina zischen. Aber er konnte seine Augen nicht von der Eule losreißen. Die Angst in ihrem Gesicht hielt ihn fest, das blanke, ungläubige Entsetzen. Es war zu furchtbar. Goth beugte sich zurück, seine lange Schnauze öffnete sich.
    Schatten glitt vor Goth vorbei und schleuderte ihm ein Echobild ins Gesicht – das Skelett eines Menschen, der sich mit maskiertem Gesicht und funkelnden Augenschlitzen auf ihn stürzte.
    Mit einem Schrei schreckte Goth zurück und verlor die Eule aus dem Griff.
    „Flieg weg!“, schrie Schatten dem Vogel zu.
    Die Eule brauchte keine Ermunterung. In einem Federwirbel von Flügeln war sie weg. Schatten peitschte die Luft, wendete über Goths Kopf, als sich seine Klangillusion auflöste. In einiger Entfernung sah er Marina, die hinter einen dichten Schirm von Blättern verschwand. Er reckte die Schultern vor und schlug wild mit den Flügeln, um sie einzuholen.
    Hinter sich hörte er Goths Wutgeheul. Aber er drehte sich nicht nach ihm um. Er drang in das Dickicht ein und Marina wartete auf der anderen Seite. Wortlos gruben sie sich tiefer in die üppigen Farnwedel hinein und hängten sich schließlich hinter riesigen Blättern mit abgerundeten Ecken auf. Sie waren fast vollständig verborgen.
    „Gibt es mehr von ihnen?“, flüsterte Marina.
    Das war ein entsetzlicher Gedanke – dass mehr Kreaturen wie Goth hier waren, gerade so wie die Eulen und die Fledermäuse in den beiden anderen Wäldern gesammelt worden waren. Wenn die Menschen Goth und Throbb in ihrem Dschungel gefangen hatten, konnten sie auch noch andere erwischt und hierher gebracht haben. In diesem Augenblick wäre er nicht einmal überrascht

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