Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
Augen aus glänzendem Onyx, eine doppelköpfige Schlange mit Silberflügeln und in jeder Ecke des Raumes ein Paar wachsame Augen.
In der östlichen Wand öffnete sich ein großes Portal zur äußeren Treppe, das jetzt fast völlig durch Schlingpflanzen, Farne und bröckelndes Mauerwerk verschlossen war. In dem flachen hohen Dach befand sich eine runde Öffnung. Sie wurde von Voxzaco ständig frei gehalten, weil sie einen umfassenden Ausblick auf die Sterne und den Mond ermöglichte.
Unmittelbar unter dieser Öffnung befand sich der Heilige Stein. Er war ebenfalls rund und dick und hatte den doppelten Durchmesser von Goths Flügelspanne. Er lag flach auf dem Boden der Kammer. In die Oberfläche waren fremdartige Zeichen der Menschen eingegraben, Vögel und andere Tiere und Fledermäuse – und Cama Zotz selbst, dessen Schlitzaugen aus verschiedenen Stellen des Steins herausblickten. Menschen hatten den Heiligen Stein angefertigt, und die Bilder waren vom Alter schwarz und abgeschliffen. Sie liefen außen um den Heiligen Stein herum und bewegten sich dann allmählich in einer Spirale bis zu dem Loch genau in der Mitte.
Goth hatte einen großen Teil seines Lebens in der königlichen Kammer verbracht, den Heiligen Stein aber nie in seinen Einzelheiten untersucht. Das war die Aufgabe von Voxzaco, sich über die winzigen Bilder zu beugen und an dem Schimmel und dem Staub der Jahrhunderte zu kratzen. Es hieß, er könne mithilfe des Heiligen Steins die Jahreszeiten voraussagen, die Länge der Nächte, die Mondphasen. Und es war seine Pflicht auf dem Stein die Opferungen zu vollziehen, die Herzen herauszureißen und sie Cama Zotz darzubringen. Die Hieroglyphen trugen davon eine dauerhafte Blutschicht.
„Kommt“, sagte Voxzaco, trippelte auf den Heiligen Stein und führte Goth näher an die Mitte heran. „Schaut. Dies ist das Hier und Jetzt. Es ist alles auf dem Heiligen Stein. Eure Gefangennahme durch die Menschen, die Feuerstürme ...“
Goth benutzte Echos, um ungeduldig den Stein zu betrachten, aber alles, was er erkennen konnte, war eine Reihe gezackter Linien. Sollte das da eine Fledermaus sein? Oder Flammen?
„Und hier die Heimsuchungen des Königreiches“, fuhr Voxzaco fort. „Die Hungersnot, die wir hatten. “
Goth erinnerte sich an die Magerkeit der Fledermäuse, die ihm vorhin aufgefallen war. „Warum Hunger?“
„Viele Vögel und Vierfüßler sind vor den Feuerstürmen geflohen. Sie haben sich versteckt oder sind weiter nach Süden gezogen, sogar nach Norden. Die Jagd ist sehr schwierig gewesen. Aber es hat die kleinen Fledermäuse gegeben.“ Der alte Priester stieß mit einer schuppigen Klaue auf ein anderes Bild.
Goth duckte sich tiefer auf den Heiligen Stein hinunter. Er rümpfte die Nase vor Voxzacos stinkendem Atem. Es gab eine Pflanze im Dschungel, die roch immer nach verwesendem Fleisch. Genauso stank der alte Priester. Da auf dem Stein konnte Goth die Umrisse zahlreicher kleiner Fledermausflügel erkennen. Er dachte an Schatten. Aus irgendeinem Grund machte ihn die Vorstellung nervös, dass diese kleinen nördlichen Fledermäuse sich auf dem Heiligen Stein befinden sollten.
„Sie sind eine leichte Beute“, sagte Voxzaco. „Wir hatten mehrere Dutzend in unserem Verlies und, bevor wir sie verzehrt haben, haben wir sie Zotz geopfert und um reichhaltigere Zeiten gebetet.“
„Gut“, sagte Goth und fragte sich, ob Schatten überlebt hatte. Er erinnerte sich an seinen Traum, in dem er der kleinen Fledermaus das Herz herausgerissen hatte. Wenn Schatten noch am Leben und hier im Dschungel war, würde Goth ihn selber fressen. In seiner Vorstellung waren die Menschen und die nördlichen Fledermäuse für immer miteinander verbunden – beide hatten sich ihm widersetzt und ihm Ungemach bereitet.
„Wir werden die Menschen niederschmettern und die kleinen Fledermäuse“, sagte Goth. „Das ist mein Plan von Anfang an gewesen, seit ich gefangen worden bin. Wir müssen eine Armee aufstellen und nach Norden ziehen. Wir werden die Fledermäuse auslöschen, und die Menschen werden wir mit ihrer eigenen Waffe angreifen.“
„Ja“, sagte Voxzaco mit einem wissenden Grinsen. „Auch das ist auf dem Heiligen Stein. Aber da ist noch etwas, was wir erst tun müssen.“
„Dann zeig es mir! “, verlangte Goth. Ihm gefiel die überlegene Art nicht, mit der Voxzaco ihn behandelte. Er konnte ihm das Herz herausreißen; er war schließlich der König. Er brauchte keine verrottende Leiche, die ihm die
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