Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
Schatten staunte, dass er es bemerkt hatte. Er hatte nie geglaubt, dass Chinook ein guter Beobachter war. Andererseits hatte der ihn schon ganz schön in Erstaunen versetzt. „Wie wollen wir wissen, wo Norden ist?“
„Wir richten uns nach dem Sonnenuntergang“, erklärte Schatten. „Daran erkennen wir, wo Westen ist, und können uns Norden ausrechnen. Wir fliegen hoch genug und behalten die Helligkeit des Horizonts so lange im Auge, wie wir können. Und bei jeder Dämmerung richten wir unseren Kurs neu aus.“ Es war keine perfekte Methode, aber es war die beste Möglichkeit, die ihm im Augenblick einfiel.
Klick.
Wieder dieses Geräusch. Er drehte sich um, und diesmal federte ein Blatt ein wenig, als wäre es gerade berührt worden. Schatten runzelte die Stirn. Dieser Zweig war vorher nicht da gewesen. Er war jetzt näher an ihm dran.
Kann nicht sein, sagte er sich selbst ungeduldig. Er blickte angestrengt hin. Es war ein fetter Zweig mit einer kugeligen Spitze.
Der Zweig zuckte.
Plötzlich entfaltete sich der Zweig und ein widerlich langer Hals mit einem lanzenförmigen Kopf streckte sich von einem geflügelten Körper vor. Zackige Stacheln standen von zangenartigen Krallen ab. Es war ein Insekt, das größte, das er je gesehen hatte, fast dreißig Zentimeter lang – doppelt so lang wie Schatten selbst. Seine Tarnung war hervorragend. Er hatte seinen Körper, seine Arme und Beine nur für abstehende Zweige gehalten. Es hatte große, blanke, kugelförmige Augen. Auf dem Kopf sprossen ihm zwei Antennen. Das Maul hatte einen Schnabel.
Bevor Schatten sich von seinem Rastplatz fallen lassen konnte, sprang das Insekt auf ihn drauf. Seine vier dürren Beine versanken in seinem Fell, als das Tier sich mit offenen Kiefern aufrichtete und versuchte, ihm den Kopf zu zerdrücken. Er schlug das Gesicht des Insekts mit seinem Flügel beiseite. Aber er fühlte, wie sich eine zangenförmige Klaue um seinen linken Unterarm schloss und es ihm unmöglich machte wegzufliegen. Er sah, wie sich die andere Klaue des Insekts öffnete und auf seinen Hals zuschwang ...
Und dann war in einer verschwimmenden Bewegung von silbernem Fell Chinook auf dem Insekt und grub seine Zähne in den unteren Teil des langen Halses. Schatten hörte ein Knirschen und sah, wie die zwei Hälften des Tieres von dem Ast herunterfielen. Die Beine und die dornenbesetzten Klauen schlugen noch um sich.
„Das“, sagte Schatten heftig zitternd, „war aber ein riesiges Insekt. Das war knapp, Chinook. Du hast“ – er schaute die größere Fledermaus mit ehrlicher Bewunderung an – „mir das Leben gerettet.“
Chinook aber hing wieder bewegungslos und mit furchtlosen Augen von seinem Ast herab.
„Chinook, bist du okay?“
„Das Ding hat uns beinahe gefressen!“, schrie Chinook. Es war, als ob seine ganze Angst ihn erst jetzt überschwemmte.
„Chinook, nicht so laut“, sagte Schatten ängstlich. „Wir wollen nicht ...“
„Hier fressen die Insekten Fledermäuse. Was ist das bloß für ein Ort, Schatten? Du musst uns hier wegbringen.“
„Chinook ...“
„Das ist deine Schuld! Wir könnten zurück im Wald sein, aber du hast dauernd gejammert und gesagt, er taugt nichts, und ... und ... du hast die Menschen wütend auf uns gemacht, und jetzt schau, was passiert ist. Es gibt hier Kannibalenfledermäuse und Riesenfische und Insekten größer als wir, die uns den Kopf abbeißen können!“
In seiner panischen Angst redete er Unsinn und war dabei, den ganzen Dschungel aufzuwecken. Schatten schlug ihm mit dem Flügel ins Gesicht, nicht allzu fest, aber fest genug, um ihn für ein paar Sekunden zum Schweigen zu bringen. In den Augen der größeren Fledermaus leuchtete plötzlich Wut auf und Schatten fragte sich, ob er das Richtige getan hatte. Trotzdem machte er weiter.
„Chinook, du musst dich zusammennehmen, in Ordnung?“, flüsterte er mit Nachdruck. „Du bist eine große Fledermaus, eine mächtige Fledermaus. Schau nur, was du gerade getan hast! Ich war gelähmt, Chinook. Aber du nicht. Du hast dieses Insekt getötet.“ Chinook starrte ihn nur an und keuchte.
„Du hast dieses Insekt umgebracht, Chinook.“ „Ja doch“, murmelte der.
„Du hast nicht groß überlegt. Du hast es einfach getan. Instinkte, Chinook, du hast die besten Instinkte. Hast du immer gehabt. Du bist der beste Flieger und Jäger in der ganzen Kolonie!“
„Wir werden gefressen werden!“
„Ganz und gar nicht, Chinook. Weißt du was? Ich bin froh, dass du
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