Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
dem Rücken zu tragen.
Marina staunte, wie wenig sie wog, als ob ihre uralten Knochen anfingen innen hohl zu werden. Während des Tages schlief sie lange und fest.
Marina blickte über den Flügel zu Ariel. Jeden Morgen kämmte diese ihr das Fell, machte viel Getue um sie und fragte sie, ob ihr warm war, ob sie genug gegessen hatte. Zunächst war Marina verlegen geworden – sie hatte so viel Zeit allein verbracht, sie war an solche Aufmerksamkeiten nicht mehr gewöhnt. Sie war daran gewöhnt, für sich selbst zu sorgen und alles auf ihre Weise zu tun. Aber sie konnte nicht leugnen, dass sie Ariels Zuwendung genoss. Und Schattens Mutter so nahe zu sein war merkwürdig tröstlich, eine Art von Nähe zu Schatten selbst.
„Ich hätte mit ihm gehen sollen“, sagte sie traurig. „Auf diese Weise werden wir ihn nie finden.“
Ariel schüttelte den Kopf. „Du hast Recht daran getan, nicht in diese Flugmaschine zu gehen. Schatten hat seine eigene Entscheidung getroffen. Dafür bist du nicht verantwortlich. Ich konnte auch nie verstehen, warum Cassiel einige von den Dingen getan hat, die er getan hat. Bin einfach zu dumm, denke ich.“
Marina lachte, dann schaute sie mit einem Stirnrunzeln weg.
„Ich hätte ... ich wünschte, ich wäre vorher netter zu ihm gewesen. Ich denke, ich habe ihn nicht richtig beachtet oder so.“
Ariel sagte nichts, wartete nur geduldig.
„Ich habe ihn nicht beachtet“, sagte Marina schnell mit der Erleichterung eines Schuldbekenntnisses, „aber nur, weil er mich nicht beachtet hat. Diese ganze Sucherei und das Grübeln, das war alles, was er getan hat, es war, als ob sonst nichts existierte – und, okay, es hat sich rausgestellt, dass er Recht hatte mit dem Wald, aber...“
„Es ist nicht leicht, den zweiten Platz hinter einer großen Sache einzunehmen. Cassiel war genauso, so in Anspruch genommen von dem Geheimnis der Ringe und des Großen Vesprechens, dass er nicht viel daneben gesehen hat.“
„Genau“, sagte Marina erleichtert. „Er ist eine so wichtige Person geworden und er hat es mir nicht leichter gemacht, mich euch allen anzupassen. Allein zu leben war eine Sache – du kannst dich sozusagen damit abfinden, deine eigenen Regeln entwickeln, feste Gewohnheiten annehmen –, aber dann ist Schatten gekommen und ich habe diese zweite Chance bekommen und ich hatte Angst sie wieder zu verlieren.“
Ariel nickte.
ja doch, ich habe ihn gequält“, gab Marina zu, ohne ein Lächeln verbergen zu können. „Chinook hat mir viel Aufmerksamkeit geschenkt und ... das war angenehm.“
„Natürlich war es das.“
„Ich verstehe nicht, warum Schatten es nicht kapiert hat“, sagte sie nachdenklich. „Es hat ihn nur noch wütender gemacht. Für eine clevere Fledermaus kann er ganz schön blöd sein.“
Sie erinnerte sich daran, wie Schattens Körper sich in dem furchtbaren Trog in dem Gebäude der Menschen entlangbewegt hatte, und ihr Lächeln verschwand.
„Er versteht es zu überleben“, sagte sie fest, aber sie sah dabei Ariel an, als ob sie eine wichtige Frage stellte. „Er hat es schließlich zum Hibernaculum geschafft.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber ich war bei ihm, um ihm zu helfen. Ich bezweifle, dass er es ohne mich gekonnt hätte. Du weißt doch: Er denkt nicht nach und manchmal macht er diese törichten Sachen.“
„Ich weiß“, sagte Ariel sanft. „Mach dir keine Sorgen. Wir finden ihn.“
Die Morgendämmerung nahte und sie fanden Ruheplätze hoch in einem Zedernwald. Als Marina die Flügel um sich zusammenfaltete und sich auf den Schlaf freute, sah sie Frieda allein an einem entfernten Ast hängen und ganz still und angestrengt in den sich aufhellenden Himmel blicken. Was betrachtete sie bloß? Ariel schlief schon neben Marina und sie wollte sie nicht wecken. Schweigend flog sie auf von ihrem Ast, schoss zum Baumwipfel empor und ließ sich in respektvollem Abstand hinter Frieda nieder, um sie nicht zu erschrecken.
„Siehst du sie?“, fragte Frieda, ohne sich umzuschauen.
Marina folgte dem Blick der Ältesten und in dem bleichen Licht sah sie eine glänzende Masse über einer fernen Gruppe blühender Bäume. Was war das? Für Insekten waren die einzelnen Punkte zu groß und für Vögel sicherlich zu klein. Aber da waren dutzende von ihnen und flitzten von Blüte zu Blüte.
„Kolibris“, sagte Frieda.
„Sind das Vögel?“ Sie sah, dass die Älteste ein ernstes Gesicht machte. Sie konnte sich kaum Sorgen machen, dass diese Vögel eine Bedrohung
Weitere Kostenlose Bücher