Sonnenlaeufer
den Monden zu, kaltes, weißes Licht, verdunkelt von Drachenschwingen, gnadenlos und schön. Sie spürte die Berührung eines Lichtläufers, hörte eine Stimme, die gleichzeitig schwach und ekstatisch war, und griff nach den verblassenden Farben. Sie wusste, wer dieser Mann war, denn sie erinnerte sich an das elegante Muster aus einer Zeit vor vielen, vielen Jahren – aber er entwich ihr und floh auf dem dünnen Mondlicht, während sie noch bemüht war, das Gewebe zusammenzuhalten. Er war tot – aber zuvor sagte er ihr noch, was sie wissen musste.
»Sioned!«, schrie sie. »O Göttin, nein!«
Urival fing sie auf und stürzte mit ihr zu ihrem Zelt. In der Sicherheit der blauen Seidenwände verlor der Mondschein die Herrschaft über sie. Urival legte sie auf eine Pritsche und kniete neben ihr. Er rieb ihre Hände. »Erzähl es mir«, krächzte er.
»Du musst Sioned finden! Sag Rohan – Roelstra hat sie, er wird …«
»Woher weißt du das?«
Über ihnen am Nachthimmel kreischte der Drache erneut, und Andrade schrak zurück vor dem imaginären Gefühl seiner Schwingen an ihrem Gesicht.
»Drachenschrei vor Sonnenaufgang – Urival, er ist tot, der Lichtläufer ist tot – starb, als er mir alles erzählte –, lass Sioned nicht auch sterben!«
Kapitel 16
Rohan starrte auf das Hemd, das er gerade auf den Teppich hatte fallen lassen. Nein, es war zu anstrengend, es wieder aufzuheben – und außerdem gefährlich, wenn man bedachte, in welchem Zustand sich sein Kopf befand. Nur gut, dass Sioned nicht in ihrem Zelt gewesen war, denn heute Nacht hätte er für sie kaum von Nutzen sein können. Er nahm sich vor, bei seinem Hochzeitsgelage nichts Stärkeres als Wasser zu trinken. Er würde sich schon genug Gedanken machen müssen, auch ohne dies Problem.
Sich zu recken und zu gähnen waren riskante Abenteuer, und nach einigen Versuchen stand er ganz still, bis sein Kopf aufgehört hatte zu wirbeln. Seine Lippen waren wie betäubt; desgleichen seine Nase. Er fragte sich, ob seine Mutter Walvis mit irgendwelchen Mitteln gegen einen morgendlichen Kater ausgerüstet hatte. Wo war sein Knappe überhaupt? Ein einziges Mal brauchte Rohan wirklich jemanden, der ihn zu Bett brachte, und da war der Knabe verschwunden. Er seufzte, von Mitleid für den armen Prinzen erfüllt, der gezwungen war, sich selbst die Stiefel auszuziehen, und ließ sich aufs Bett fallen, um nachzudenken, ob er es versuchen sollte.
Der Drachenschrei durchfuhr ihn, als hätte er diesen Laut nie zuvor im Leben gehört. Was machte ein Drache um diese Jahreszeit über Waes? Der Schrei kam wieder, und er stählte sich dagegen. Das Echo hallte noch in ihm nach, als er in die Kissen sank. In der tiefen Stille hörte er seinen keuchenden Atem und das schnelle Schlagen seines Herzens, und das hatte wenig mit den Unmengen Wein zu tun, die er an diesem Abend konsumiert hatte. Der dritte durchdringende Schrei zuckte wie ein Schwert durch seinen Schädel, und er schlang die Arme um den Kopf, während sein ganzer Körper bebte. Ein Drache, fern der üblichen Flugstrecken, der noch dazu des Nachts reiste, wo die Landschaft unter ihm nur schwach von den Monden erhellt wurde …
»He! Ihr da! Ihr könnt jetzt nicht hineingehen, mein Herr ist …«
»Aus dem Weg!«
Er erkannte Urivals Stimme und mühte sich in eine sitzende Position, als der Faradhi ins Zelt stürmte. »Was …«
»Hört mir zu«, erklärte der Lichtläufer mit rauer Stimme. »Roelstra hat Sioned.«
Die Folgen des Weines vergingen, als wäre ein brausender Wind vom Weiten Sand durch seinen Körper gefahren. Er sprang auf die Füße und stürzte an Urival vorbei in die Nacht hinaus. Unwillkürlich blickte er zu den Drachenschatten empor. Urival packte ihn von hinten und wirbelte ihn herum.
»Denkt nach! So gerne ihr ihn auch töten wollt, ihr könnt es nicht tun! Rohan, denkt nach!«
Wieder schrie der Drache über ihnen, und Rohan erstarrte, als über seine Haut bei diesem schrecklichen Schrei ein Schauder lief. Urival schüttelte ihn, und seine Finger bohrten sich in Rohans Schultern. »Nehmt die Hände fort«, bellte dieser.
»Hört zu! Andrade hat gefühlt, wie der abtrünnige Lichtläufer sie auf dem Mondschein angerufen hat. Er starb, indem er sie warnte. Aber es könnte eine Falle sein.«
Glaubte Urival, er wusste nicht, wie Roelstras Verstand arbeitete? »Verdammt, ich kann denken! Jetzt lasst mich los!«
Der ältere Mann sah ihm tief in die Augen. Dann lockerte er seinen Griff. »Gut.
Weitere Kostenlose Bücher