Sonnenlaeufer
wäre diese nicht so eifrig darauf erpicht gewesen, alleinige Herrin über die Ländereien und Reichtümer von River Run zu sein, dann wäre Sioned niemals zur Schule der Göttin gesandt worden.
Und dann wäre sie jetzt nicht unterwegs, um die Gemahlin eines Prinzen zu werden.
Warum tat Andrade das nur?, überlegte sie. Die letzte ausgebildete Faradhi , die in den Hochadel eingeheiratet hatte, war Sioneds Großmutter gewesen, die, wenngleich selbst nicht von höchstem Adel, einen Prinzen von Kierst geehelicht hatte. Ihre Tochter hatte den Vater von Sioned und Davvi geheiratet, aber nie zu erkennen gegeben, dass sie die Gabe in sich trug. Die jüngeren Söhne und Töchter der Hochwohlgeborenen wurden manchmal zu Lichtläufern, aber für gewöhnlich blieben sie unausgebildet, auch wenn es Hinweise auf die Gabe gab. Sie heirateten lieber, als zur Ausbildung in die Schule der Göttin einzutreten. Man hatte nie von einem Prinzen oder Lord gehört, der die Faradhi- Ringe trug. Sioned interessierte sich nicht sonderlich für die Angelegenheiten der Prinzenreiche, aber sie wusste genug, um zu begreifen, dass ein Lichtläufer-Prinz auf andere bedrohlich wirken würde. Es bestand aber eine gute Wahrscheinlichkeit, dass eines ihrer Kinder genau das sein würde. Obwohl Prinzessin Milar die Gabe nicht besaß, hatte man schon davon gehört, dass sie eine oder mehrere Generationen übersprang, ehe sie sich wieder zeigte.
Ganz plötzlich begriff Sioned, dass ein Sohn, den sie dem Prinzen schenken würde, nach ihm an die Herrschaft käme. Sie verfluchte ihre Dummheit, dass sie nicht früher daran gedacht hatte; sie war so in ihre Gedanken an ihn versunken gewesen, dass sie überhaupt nicht an Kinder gedacht hatte. Und sie erkannte schließlich auch, was Andrade von ihr wollte: einen Faradhi- Prinzen, der die Wüste regierte, der alle Macht seiner Position und seiner Gabe einsetzte, um – um was? Das war es, was sie nicht verstand. Besser gesagt: Sie hoffte, dass sie da etwas nicht verstand.
Kapitel 5
Prinz Zehava starb am sechsten Tag kurz vor Sonnenaufgang, umgeben von seiner Familie. Im Laufe des vorhergehenden Tages und der Nacht war er immer wieder kurz bei Bewusstsein gewesen, aber der Tod näherte sich und hatte seinen Geist umnebelt und seine Sprache undeutlich werden lassen. Er starb jedoch frei von Schmerzen und ohne Angst um die Zukunft seines Sohnes, der zum regierenden Prinzen werden würde, sobald Zehava seinen letzten Atemzug getan hatte. Ungeachtet der Tradition, die ihm das Betreten des Todesgemaches untersagte, war Rohan bei seinem Vater, als dieser starb. Milar schloss die Augen ihres Gatten; Tobin fuhr mit den Fingerspitzen sacht über seine Stirn, um die Sorgenfalten zu glätten. Rohan bückte sich und küsste seinen Vater. Dann wandte er sich um und verließ den Raum.
Andrade wartete eine Weile, ehe sie ihm nachging. Er war dort, wo sie ihn vermutete: im Turm der Ewigen Flamme, wo er den Dienern half, das Feuer hoch genug zu schüren, damit es überall in der Wüste zu sehen war und Zehavas Volk von seinem Dahinscheiden unterrichtet wurde. Die Flamme würde von fernen Hügeln aus gesehen werden, und dort würden andere Feuer entfacht werden, bis eine Kette aus Licht entstand, die bei Anbruch der Dunkelheit das Prinzenreich in Länge und Breite umgab.
Der Schweiß lief als unangenehmes Rinnsal ihr Rückgrat hinunter und zwischen ihre Brüste, ehe Rohan endlich überzeugt war, dass das Feuer hell genug brannte. Sie war ohnehin nicht bester Laune, und die Hitze verschlechterte ihre Stimmung nur noch mehr. Wenngleich sie Zehava nie zutiefst zugetan gewesen war, so hatte sie ihn doch geschätzt, und sie wusste, dass die Welt nach seinem Tod ärmer war. Aber nun hatte sie es mit einem neuen Prinzen zu tun, und als sie den Glutherd hinter sich ließen, klang ihre Stimme vielleicht schärfer, als es nötig gewesen wäre.
»Keine einzige Vorbereitung ist für Sioneds Ankunft getroffen worden. Warum verweigerst du deiner Braut die ihr zustehenden Ehrenbezeigungen? Ich verwahre mich dagegen, das Mädchen hier wie einen ganz gewöhnlichen Gast eintreffen zu sehen, schlimmer noch, wie einen ganz unwichtigen!«
»Friede, Andrade«, murmelte Rohan müde. »Es war eine lange Nacht, und ich habe einen noch längeren Tag vor mir.«
»Antworte mir, ehe er noch länger wird, Knabe!«
Ein scharfer Blick kreuzte den ihren, feurig wie ein Drache auf der Jagd. »Das Mädchen kommt in meine Burg, Andrade, nicht in deine. Ihr
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