Sonnenstürme
dem glatten, warmen Boden. Seit Monaten war der Weise Imperator nicht mehr gelaufen. Die Beine fühlten sich sehr schwach an, als hätte bereits die Atrophie eingesetzt. Ihm graute bei der Vorstellung, wie er sich nach Jahrzehnten im Chrysalissessel fühlen würde. Dazu wollte er es nicht kommen lassen.
»Ich werde mich nicht zurücklehnen und beobachten, wie das Reich Schaden nimmt. Ich bin der Weise Imperator. Ich entscheide über Traditionen und die Entwicklung unserer Gesellschaft. Einer meiner Vorgänger erklärte, dass die Füße eines Weisen Imperators nie den Boden berühren sollten. Diese Tradition hebe ich nun auf. Zu viel steht auf dem Spiel, und ich muss mit einigen überlieferten Dingen brechen, um zu verhindern, dass wir alles verlieren.«
Jora’h bemerkte, dass Yazra’h ihn mit Freude im Gesicht beobachtete. Sie begrüßte seine Entscheidung ganz offensichtlich. Sie war stolz auf ihren durchtrainierten Körper und die eigenen physischen Fähigkeiten – vielleicht freute sich deshalb darüber, dass ihr Vater etwas aufgab, das ihn wie einen Invaliden aussehen ließ. Jora’h wollte nicht zu einem aufgequollenen Fleischberg werden wie vor ihm Cyroc’h.
Er ließ den Rand des Chrysalissessels los und trat vor. Den Wächtern blieb keine andere Wahl, als ihn passieren zu lassen. Lächelnd ging Jora’h die niedrigen Stufen des Podiums hinab. Er sah zum holographischen Bild seines Gesichts empor, das in den Dunst projiziert wurde, wandte sich dann wieder den Höflingen zu. »Ich fliege nach Dobro. Jetzt.«
46 DOBRO-DESIGNIERTER UDRU’H
Während er den jungen Designierten-in-Bereitschaft mit seinen zukünftigen Aufgaben und der Verantwortung vertraut machte, die er eines Tages tragen musste, erinnerte sich Udru’h daran, wie lange es gedauert hatte, bis er selbst bereit gewesen war, die scheußlichen Notwendigkeiten des Zuchtprogramms zu akzeptieren. Aufgeschlossenheit und Lerneifer des jungen Mannes freuten ihn.
Vor dem Tor des Lagers stand Daro’h geduldig an der Seite seines Onkels. Der Designierte-in-Bereitschaft hatte ausdrucksvolle Züge, die denen seines Vaters ähnelten. Er verzichtete zunächst darauf zu urteilen, obgleich er wusste, dass Jora’h nichts von den Zuchtexperimenten hielt. Wie alle Ildiraner hätte er dem Weisen Imperator jederzeit Treue geschworen, aber Daro’h schien auch die Bedeutung dessen zu verstehen, was ihn hier auf Dobro erwartete.
Trotzdem entschied sich Udru’h dagegen, ihm die Wahrheit über Nira zu sagen. Er sollte sie jetzt noch nicht erfahren, vielleicht nie.
Stratosphärenwolken zeigten sich weit oben am dunstigen Himmel. Es war warm, fast heiß, und die Hügel zeigten ein saftiges Grün. Neues Gras bedeckte die Brandnarben, die von der Feuerzeit des vergangenen Jahres stammten. Im Lager lebten die gefangenen Menschen ihr Leben, arbeiteten und schliefen. Nach Generationen an diesem Ort kannten sie keine andere Existenz, trotz der Geschichten der grünen Priesterin.
»Wir haben die menschliche DNS mit dem genetischen Material verschiedener ildiranischer Geschlechter gemischt, und inzwischen steht uns eine recht große Datenbank zur Verfügung«, sagte Udru’h. »Viele Nachkommen sind Fehlschläge gewesen, wie du dir vorstellen kannst, denn immerhin ist die Genetik keine exakte Wissenschaft. Die grässlichsten Geschöpfe haben wir schnell eliminiert. Früher gaben wir den Müttern Bescheid, aber ihre emotionalen Reaktionen ließen sich nur schwer kontrollieren.«
Daro’h runzelte die Stirn und blickte durch den Zaun zu den Baracken. »Wissen sie nicht, dass sie einen Beitrag für das Wohl des Reiches leisten?«
»Die Menschen gehören nicht zum Reich. Sie teilen unsere langfristigen Ziele nicht.«
»Vielleicht verstehen sie sie nicht.«
Der Dobro-Designierte schüttelte den Kopf. »Sie sind ihnen gleichgültig.«
Im Lager kümmerten sich menschliche Familiengruppen um Gärten, wenn sie nicht für die Arbeit eingeteilt waren. Mit kleinen Fahrzeugen brachten Wächter und Aufseher Gefangene zu den Erosionsschluchten und Felstälern, wo alle, die nicht direkt fürs Zuchtprogramm gebraucht wurden, nach Opalknochenfossilien suchten, die als Raritäten überall im Ildiranischen Reich verkauft wurden.
Daro’h beobachtete die Aktivitäten im Lager und nahm alle Einzelheiten in sich auf. »Den Gefangenen ist eine gewisse Freiheit gestattet? Sie bilden ihre eigenen sozialen Gruppen und Familien? Sie entscheiden, wo sie wohnen und schlafen, ohne dass ihnen
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