Sonnensturm
keine Kuppel über
Stonehenge«, sagte Myra. »Ich frage mich, ob die
Steine morgen noch stehen werden. In der Hitze könnten sie
zerbröckeln und rissig werden. Es ist ein trauriger Gedanke,
nicht wahr? Nach all diesen Jahrtausenden.«
»Ja.«
»Diese Sonnenanbeter sagen, dass sie zum Sonnenaufgang
hier sein werden.«
»Das ist ihr gutes Recht«, sagte Bisesa. Heute
Abend war die Welt voller Verrückter, die im Sturm
Selbstmord begehen wollten – in einer Vielfalt mehr oder
weniger origineller Varianten.
Bisesa wurde von einem entfernten Geräusch abgelenkt, das
sich wie Geschrei anhörte. Sie stand auf, ging zum Rand des
Dachs und ließ den Blick über London schweifen.
Im erlöschenden Tageslicht leuchteten die
Straßenlampen im üblichen gelborangefarbenen
Glühen, und unter der Kuppel montierte Scheinwerfer tauchten
die großen Gebäude der Hauptstadt in weißes
Licht. Es herrschte reger Verkehr, und Flüsse aus Licht
strömten um die Tragsäulen der Kuppel. In der Stadt
hatte in den letzten Tagen eine nervöse Anspannung in der
Luft gelegen. Sie wusste, dass ein paar Leute eine
nächtliche Party planten, als ob das ein größeres
Silvester wäre. Vorsorglich hatte die Polizei den Trafalgar
Square, das eigentliche Zentrum der Kuppel und traditioneller
Veranstaltungsort von Londons Festen und Demonstrationen
gleichermaßen, schon seit Tagen abgesperrt.
Diese Geschäftigkeit wurde vom Zinndeckel
überwölbt. Riesige Leuchtkörper, zum Teil ein paar
hundert Meter lang, waren an dieser weiten Decke aufgehängt.
Ihr perlfarbenes Glühen beleuchtete die schlanken
Säulen der Tragpfeiler, die wie Suchscheinwerfer aus der
Stadt hervorstachen. Funken stoben um die oberen Ansätze der
Säulen und kamen auf den riesigen Trägern zur Ruhe: Die
Tauben von London hatten sich unter diesem erstaunlichen Dach
häuslich eingerichtet.
Und dann ertönte wieder dieses Knistern.
Man wusste überhaupt nicht mehr Bescheid, was
draußen vorging. Die Nachrichten wurden seit dem
Valentinstag streng zensiert, als schließlich das
Kriegsrecht verhängt worden war. Statt Tatsachenberichte gab
es nun Durchhalteparolen und markige Slogans an den riesigen
Ventilatoren mit Namen wie ›Brunel‹ und
›Barnes Wallis‹, die die Londoner Luft reinigen
sollten, während die Kuppel geschlossen war. Dazu gab es
Reportagen über die Raben des Tower, deren Anwesenheit
traditionell für Londons Sicherheit bürgte und die
wohlbehütet waren, solange das Tageslicht ausgeschlossen
wurde.
Dennoch vermochte Bisesa die Wahrheit zu erraten. In den
letzten paar Tagen hatte der Schild sich erkennbar vor die Sonne
geschoben. Es war das erste greifbare, physische Zeichen seit dem
9. Juni 2037, dass wirklich etwas geschah – und es war ein
fremdes Licht am Himmel, eine Verdunkelung der Sonne, ein
Vorzeichen wie aus der biblischen Offenbarung. Die Anspannung war
schier ins Unermessliche gestiegen; die Kultisten,
Verschwörungstheoretiker und Kriminelle aller Couleur
ergriffen zunehmend die Initiative.
Und neben den Verrückten gab es die Flüchtlinge, die
nach irgendeinem sicheren Versteck suchten. An diesem letzten Tag
war London schon bis zu den Dachböden belegt – und
Bisesas Wohnung war nicht weit von Fulham Gate entfernt. Sie
hörte schon wieder eine Serie knatternder Geräusche.
Bisesa war Soldat; sie vermutete, dass es sich um Schüsse
handelte. Und nun glaubte sie auch Rauch zu riechen.
Sie klopfte Myra auf die Schulter. »Komm! Es wird Zeit,
dass wir runtergehen.«
Doch Myra sträubte sich. »Ich will das erst noch
fertig machen.« Normalerweise lag Myra katzenhaft locker
da. Nun hatte sie sich aber versteift, die Schultern
zusammengezogen und hackte wie ein Specht auf der Softscreen
herum.
Sie will es verschwinden lassen, sagte Bisesa sich. Und sie
glaubt, wenn sie sich mit ganz alltäglichen Dingen
beschäftigt und ihre Hausaufgaben macht, vermag sie das
alles irgendwie hinauszuzögern und ihr kleines Nest aus
Normalität zu behalten. Bisesa verspürte den Impuls,
sie zu beschützen – und Bedauern, weil sie ihre
Tochter nicht davor verschonen konnte, was da kommen würde.
Der Rauchgeruch wurde stärker.
Bisesa bückte sich und faltete Myras Softscreen zusammen.
»Wir gehen runter«, sagte sie nachdrücklich.
»Sofort.«
Als sie die Dachtür hinter ihnen schloss, schaute sie ein
letztes Mal zurück. Die letzten Lücken in der Kuppel
wurden geschlossen und blendeten
Weitere Kostenlose Bücher