Sonnensturm
Ausbruch des Sonnensturms geschehen würde, wirklich nicht
geglaubt – sonst wäre sie wahrscheinlich brav im
Bergwerk in Cheshire geblieben und hätte Harry auch nicht
gehen lassen. Nun, sie hatte sich geirrt. Ihre Mutter hatte ihr
gesagt, dass der Schild die auftreffende Sonnenhitze auf ein Tausendstel dessen reduzieren würde, was sonst
über den Planeten hereingebrochen wäre. Das war
unglaublich: Wenn das schon ein Tausendstel war, wie
hätte die volle Wucht des Sturms sich dann erst
ausgewirkt?
»Die Verhüllung von Sigiriya ist binnen einer
Minute weggerissen worden«, schrie Perdita niedergeschlagen
ins Telefon. »Und die Hälfte der Bäume ist
umgeknickt worden und…«
»Wie bist du überhaupt aus diesem verdammten
Bergwerk rausgekommen? Hast du überhaupt eine Vorstellung,
welche Strippen ich ziehen musste, um dich dort
unterzubringen?«
»Mutter, das bringt jetzt nichts. Ich bin nun einmal
hier.«
Sie spürte förmlich, wie Siobhan sich beherrschte.
»Schon gut, schon gut. Such irgendwo Schutz. Und bleib
dort. Lass das Telefon eingeschaltet. Ich werde ein paar Anrufe
tätigen. Ein paar GPS-Satelliten sind zwar defekt, aber
vielleicht werden sie dich trotzdem orten…«
Der Wind wurde noch stärker und traf sie wie eine
große feuchte Faust. »Mutter…«
»Ich werde mich mit dem Militär auf der Insel in
Verbindung setzen – mit dem britischen
Konsulat…«
»Mama, ich liebe dich!«
»Oh, Perdita…«
Plötzlich sprühte das Telefon in ihrer Hand Funken,
sie ließ es fallen, und weg war es.
Und dann hob der Wind sie einfach hoch.
Sie wurde hochgehoben, wie ihr Vater es getan hatte, als sie
noch ganz klein war. Die Luft war heiß, nass und mit Schutt
geschwängert, und der Wind riss sie so schnell mit sich,
dass sie kaum noch atmen konnte. Seltsamerweise war es aber fast
entspannend, wie ein Blatt vom Winde verweht zu werden. Sie sah
nicht einmal den großen Teakholzstamm, der wie sie taumelnd
durch die Luft flog und ihrem Leben ein Ende setzte.
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MITTAG
10:23 (Londoner Zeit)
Auf dem Mond saß Michail Martynov mit Eugene Mangles
zusammen.
Der Raum – der mit Kommunikationsanlagen angefüllt
war, dessen Wände mit Softscreens tapeziert und in dem
fleißige Arbeiter zugange waren, die in Mikrofone murmelten
– war Bud Tookes Büro gewesen, als er noch das
Kommando über Clavius hatte. Nur dass Bud nun oben an L1
saß und sein Leben riskierte, während Michail Kaffee
süffelte und schöne Bilder anschaute.
»Wir können jetzt überhaupt nichts mehr
tun«, sagte Michail. »Nur Beobachtungen anstellen,
Aufzeichnungen machen und für die Zukunft lernen.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt«, grummelte
Eugene. Mit einer impulsiven Bewegung stieß er seinen Stuhl
zurück und stiefelte im Büro umher.
Michail wollte ihn erst zurückpfeifen, überlegte es
sich dann aber anders. Er hatte mehr für sich selbst
gesprochen als für Eugene. Zumal er nicht die geringste
Ahnung hatte, was Eugene überhaupt fühlte. Der Junge
war ihm auch jetzt noch ein Rätsel, obwohl sie schon so nah
und so lang zusammengearbeitet hatten. Wie so oft wurde Michail
von der Sehnsucht verzehrt, Eugene zu halten, ihn zu
trösten. Aber das war natürlich unmöglich.
Und was Michail selbst betraf, so verspürte er in erster
Linie ein Schuldgefühl.
Er wandte sich der großen Softscreen an der Stirnseite
des Raums zu, die eine Gesamtansicht der Erde zeigte. Das aus
über hundert Datenleitungen gespeiste Bild war die riesige
und detaillierte Abbildung eines Planeten, noch besser als Buds
Darstellung auf dem Schild, und wirklich schön, sagte
Michail sich traurig. Aber es war das Bildnis eines Planeten in
Agonie.
Während die Erde hilflos rotierte, war der Subsolarpunkt
immer weiter nach Westen gewandert. Es war, als ob ein
Schweißbrenner über den Planeten zöge. Im Moment
war das vertrocknete Antlitz Afrikas ihm zugewandt; die
vertrauten Umrisse des Kontinents waren deutlich zu sehen
gewesen. Doch nun ballte sich ein riesiges Sturmsystem, das
Tausende von Kilometern durchmaß, über der Sahara
zusammen, und das grüne Herz des Kontinents wurde von
riesigen schwarzen Wolken bedeckt: Heute wird der letzte
Regenwald sterben, sagte Michail sich niedergeschlagen. Und
während die Vegetation des Landes abbrannte, gaben die Meere
große Mengen Feuchtigkeit an die Wolken ab.
Inzwischen war jeder Teil der Welt, selbst die Gebiete, die
noch im
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