Sonnensturm
Dann sag ihn bitte ab.«
Sie tastete mit der Zunge den Zahn ab, der ihr Ärger machte,
und fragte sich, wie der Stand der Zahnheilkunde auf dem Mond
war.
Ihre Studenten, ihr Auto, ihre Zähne. Diese
Bruchstücke ihres Lebens von Milton Keynes, wo sie einen
Platz an der Offenen Universität hatte, schienen
zusammenhanglos, sogar absurd hier zwischen den Planeten. Und
doch würde das Leben weitergehen, sobald diese gewaltige
Störung vorbei war; sie musste einen Teil ihrer Energie
darauf verwenden, die Dinge zusammenzuhalten, damit es auch ein
Leben gab, zu dem sie zurückzukehren vermochte.
Aber natürlich war das Alltagsgeschäft nicht das,
wofür Perdita sich interessierte.
Das Konterfei ihrer Tochter auf dem winzigen Handy-Display war
zwar statisch verrauscht, aber noch erkennbar. Siobhan wollte
sich nicht über solche Schönheitsfehler in einem
Fernmeldesystem beklagen, das nun Menschen auf zwei Welten
miteinander verband – und das auch bald bis zum Mars
reichen würde, wie die Systemprovider vollmundig
versprachen. Dennoch mutete die Verzögerung sie seltsam an.
Ihr wurde nämlich bewusst, dass sie so weit gereist war,
dass selbst das Licht eine wahrnehmbare Zeitspanne brauchte, um
sie mit ihrer Tochter zu verbinden.
Es dauerte nicht lang, bis Siobhans Sicherheit wieder ein
Thema wurde.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte
Siobhan zu ihrer Tochter. »Ich bin von ausgesprochen
fähigen Leuten umgeben, bei denen ich sicher wie in Abrahams
Schoß bin. Wahrscheinlich werde ich auf dem Mond sogar
sicherer sein als in London.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Perdita mit
mildem Tadel in der Stimme. »Du bist nicht John Glenn,
Mutter.«
»Nein, aber der muss ich doch auch nicht sein.«
Siobhan unterdrückte eine leise Entrüstung,
verspürte zugleich aber auch ein zärtliches Gefühl
für ihre Tochter. Dabei bin ich doch erst
fünfundvierzig! Aber habe ich meine Mutter nicht genauso
behandelt, als ich zwanzig war oder so, sagte sie sich
schuldbewusst.
»Und die Protuberanzen nicht zu vergessen«, sagte
Perdita. »Ich halte mich nämlich auf dem
Laufenden.«
»Das tun wohl die meisten Menschen seit Juni, sollte man
meinen«, sagte Siobhan trocken.
»Astronauten sind außerhalb der irdischen
Lufthülle und des Magnetfeldes. Also werden sie nicht so
abgeschirmt wie auf der Erdoberfläche.«
Siobhan schwenkte das Handy und zeigte Perdita die Kabine. Sie
hatte Platz genug für acht Personen – war aber bis auf
sie leer – und hatte solide Wände, deren Dicke durch
die Tiefe der Fensteröffnungen offenbart wurde.
»Siehst du?« Sie schlug gegen die Wand.
»Fünf Zentimeter Aluminium und Wasser.«
»Das hilft aber auch nichts, wenn sie von einer starken
Sturmböe getroffen wird«, gab Perdita zu bedenken.
»Im Jahr 1972 loderte eine starke Protuberanz auf, nur ein
paar Monate, nachdem Apollo 16 vom Mond zurückgekehrt
war. Wenn sie die Astronauten auf der Mondoberfläche
erwischt hätte…«
»Aber sie hat sie nicht erwischt«, sagte Siobhan.
»Zumal es damals noch nichts Derartiges wie eine
Sonnenwettervorhersage gab. Wenn ein Risiko bestünde,
würden sie mich nicht fliegen lassen.«
Perdita schnaubte. »Aber die Sonne ist jetzt unruhig,
Mum. Es sind schon vier Monate seit dem 9. Juni vergangen, und
man hat noch immer keine Erklärung für die Ursache.
Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob die Prognostiker
überhaupt noch zu Vorhersagen imstande sind.«
»Gerade um das herauszufinden, fliege ich ja zum
Mond«, sagte Siobhan ungeduldig. »Und ich muss
wirklich mit der Arbeit weitermachen, mein Schatz…«
Mit herzlichen Worten zum Abschied und einem Gruß an ihre
Mutter beendete Siobhan das Telefonat. Es war eine gewisse
Erleichterung, die Verbindung abzubrechen.
Natürlich vermutete sie, dass Perdita überhaupt
keine ›Sicherheitsbedenken‹ wegen ihrer Mission
hatte. Es war schnöder Neid. Perdita ertrug es nicht, dass
ihre Mutter diese Reise unternahm und nicht sie. Mit einer
Anwandlung schuldbewussten Triumphs lugte Siobhan aus dem Fenster
auf den dräuenden Mond.
Siobhan war ein Kind der 1990er. Die ersten Menschen waren
schon zwei Jahrzehnte vor ihrer Geburt auf dem Mond gelandet. Sie
hatte sich immer wieder die Reliquien der Apollo-Missionen angeschaut, die grobkörnigen Aufnahmen der Astronauten mit
ihren frischen Gesichtern, den Flaggen und steifen
Druckanzügen und der primitiven Technik – ein
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