Sonnensturm
Starts und
Landungen.
Ein transparenter Laufgang schlängelte sich bis zur
Schleuse des Shuttles. Dann machte Siobhan, von Kapitän
Mario eskortiert, wie in Trance die ersten Schritte in der
traumhaft leichten Schwerkraft des Mondes. Der intelligente
Koffer rollte hinter ihr her.
Ihr erster Eindruck vom Mond, der durch die klaren
gekrümmten Wände des Laufgangs etwas verzerrt wurde,
war der einer sanft gewellten Oberfläche. Jede Kante wurde
durch den allgegenwärtigen Staub, die Folge äonenlangen
Meteoritenbeschusses, geglättet. Es sieht fast aus wie ein
Schneefeld, sagte sie sich. Die Schatten waren nicht etwa
pechschwarz, wie sie es sich vorgestellt hatte, sondern sie
wurden durch das reflektierte Glühen des Bodens
aufgehellt.
Das hätte sie aber auch nicht wundern sollen. So dunkel
dieser leblose Körper auch war, das von ihm reflektierte
Licht war das Mondlicht, das seit dem großen Einschlag, aus
dem die beiden Welten überhaupt erst hervorgegangen waren,
über der Erde geschienen hatte. Also ging Siobhan in
originärem Mondlicht spazieren. Nur dass dieser Teil des
Mondes mit Fahrzeugen, Brennstofftanks, Schutzbunkern und
Ausrüstungshaufen übersät war; hier hatten die
Menschen dem Mond ihren Stempel aufgedrückt.
Der Laufgang endete an einer kleinen kompakten Struktur.
Siobhan und Mario fuhren im Aufzug zu einem unterirdischen Tunnel
hinab. Hier wartete schon ein offener Wagen auf einer
Einschienenbahn auf sie. Sie sah, dass der Wagen groß genug
für zehn Personen war: die maximale Anzahl von acht
Shuttle-Passagieren, zwei Besatzungsmitglieder und das
Gepäck.
Der Karren setzte sich lautlos in Bewegung.
»Ein Induktionsantrieb«, sagte Mario.
»Dasselbe Prinzip wie bei der Schleuder. Unbegrenzt
vorhandenes Sonnenlicht und geringe Schwerkraft: Die Physik
hinter diesem kleinen Elektrokarren ist wie maßgeschneidert
für die Bedingungen auf dem Mond.«
Der durch Leuchtstoffröhren erleuchtete Tunnel war
schmal, und der Wagen fuhr so dicht an den glasierten
Felswänden entlang, dass sie sie mit ausgestreckter Hand zu
berühren vermocht hätte – und dies völlig
gefahrlos, denn der Wagen fuhr mit kaum mehr als
Schrittgeschwindigkeit. Sie begriff, dass jenseits der Erde
›Vorsicht die Mutter der Porzellankiste‹ war: Alles geschah langsam und mit Bedacht.
Am Ende des Tunnels war eine Luftschleuse und das, was Mario
als eine ›Staubschleuse‹ bezeichnete: eine kleine,
mit Bürsten, Vakuumschläuchen und anderem Gerät
bestückte Kammer, wo Raumanzüge und Menschen vom
elektrostatisch haftenden Mondstaub befreit wurden. Weil Mario
und Siobhan sich jedoch nicht an der Oberfläche aufgehalten
hatten, vermochten sie diesen Zyklus schnell zu durchlaufen.
An der inneren Tür der Luftschleuse prangte ein
großes Schild:
WILLKOMMEN IN DER CLAVIUS-BASIS
U.S. ASTRONAUTICAL ENGINEERING CORPS
Darunter sah sie eine Liste beteiligter Organisationen wie der
NASA, der U.S. Air and Space Force sowie Boeing und verschiedene
andere Privatfirmen. Außerdem gab es eine Würdigung
der eurasischen, japanischen, panarabischen, panafrikanischen und
anderen Weltraumorganisationen, die mehr als die Hälfte des
Gelds für dieses Projekt unter der Federführung der
Amerikaner bereitgestellt hatten. Sie hatte allerdings den
Eindruck, als ob diese Würdigung irgendwie widerwillig
geschah.
Sie berührte einen kleinen Kreis, der das Logo der British National Space Agency darstellte. In den letzten
Jahren hatten die Briten sich als wahre Genies auf dem Gebiet der
Robotik und Miniaturisierung entpuppt, und in der Periode der
neuerlichen, maschinenbasierten Mond- und Mars-Erkundung zu
Beginn des Jahrhunderts hatten die BNSA und ihre Ingenieure eine
Blütezeit erlebt. Jedoch war diese Phase nur von kurzer
Dauer gewesen und schon wieder zu Ende.
Marios und ihr Blick trafen sich, und er grinste. »So
sind sie eben, die Amerikaner. Sie gönnen niemandem sonst
den Erfolg.«
»Aber sie waren als Erste hier«, gab sie zu
bedenken.
»O ja, das waren sie.«
Die innere Tür glitt auf und enthüllte einen
kleinen, stämmigen Mann, der schon auf sie wartete.
»Professor McGorran? Willkommen auf dem Mond.« Sie
erkannte ihn sofort. Das war Oberst Burton Tooke, USASF,
Kommandant der Clavius-Basis. Er war ungefähr fünfzig
und hatte einen militärischen Bürstenhaarschnitt; er
war einen guten Kopf kleiner als sie und grinste entwaffnend,
wobei Zahnlücken
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