Sonnensturm
wie
Karten-Koordinaten. Aber nicht einmal die Überschriften der
Spalten sagten Bisesa etwas; offensichtlich hatten die Astronomen
eine eigene Sprache.
»Es tut mir Leid«, sagte Aristoteles. »Ich
kenne nicht Ihren genauen Wissensstand.«
»Geh von ›nicht vorhanden‹ aus. Kannst du
mir das auch grafisch darstellen?«
»Natürlich.« Die Tabellen wurden durch eine
Abbildung des Nachthimmels ersetzt. »Die Sicht von London
um Mitternacht des 1. April 2042«, sagte Aristoteles.
Beim Anblick des glasklaren Sternenhimmels drängte eine
lebendige Erinnerung in Bisesas Bewusstsein. Sie erinnerte sich,
mit ihrem Handy unter dem kristallinen Himmel einer fremden Welt
zu sitzen, während das kleine Gerät mit der
kartografischen Abbildung des Himmels und der Ermittlung des
Datums beschäftigt war… aber sie hatte alles auf Mir
zurücklassen müssen, sogar das Handy.
Aristoteles scrollte durch Anzeige-Optionen und zeigte ihr
skizzenartige Grafiken von Sternbildern mit himmlischen
Längen- und Breitengraden.
Sie löschte das alles. »Zeig mir nur die
Sonne«, sagte sie.
Eine quittengelbe Scheibe wanderte über einen schwarzen,
sternenübersäten Himmel, und in der Ecke wurde ein
Kästchen mit einer Datums- und Zeitanzeige eingeblendet. Sie
verfolgte den Monat April des Jahres 2042 von Anfang bis Ende und
betrachtete die Sonne, wie sie am Himmel ihre Bahn zog.
Und dann erinnerte sie sich, was sie auf ihrer seltsamen Reise
zurück von Mir mit Josh gesehen hatte. »Zeig mir bitte
den Mond.«
Eine graue Scheibe mit den Konturen eines ›Manns im
Mond‹ erschien.
»Und nun mit dem 1. April anfangen und noch mal
vorlaufen lassen.«
Der Mond beschrieb seine gemessene Bahn am Himmel. Erst
schwoll er an bis zum Vollmond und schrumpfte dann wieder zum
Halbmond und bis zu einer Sichel, die eine Scheibe aus Dunkelheit
einfasste.
Diese dunkle Scheibe schob sich über die Abbildung der
Sonne.
»Anhalten.« Das Bild gefror. »Ich
weiß, wann es geschehen wird«, sagte sie atemlos.
»Bisesa?«
»Der Sonnensturm… Aristoteles. Ich weiß,
dass es nicht leicht für dich sein wird, das zu arrangieren.
Aber ich muss unbedingt mit der Königlichen Astronomin
sprechen – die Präsidentin erwähnte ihren Namen
–, mit Siobhan McGorran. Es ist wirklich
wichtig.«
Sie starrte auf Sonne und Mond, die auf der Softwall exakt zur
Deckung gebracht worden waren. Das Datum der simulierten
Sonnenfinsternis war der 20. April 2042.
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INDUSTRIE
Bud Tooke empfing Siobhan vor der Komarov – wie
schon beim ersten Mal.
Sie hatte Bud gesagt, dass sie ungeachtet der Ortszeit sofort
an die Arbeit gehen wollte. Er lächelte, als er mit ihr zu
den Hauptkuppeln fuhr. »Nur keine Hektik. Wir fahren hier
sowieso Vierundzwanzigstunden-Schichten, seit vor einem halben
Jahr die Direktive der Präsidentin eingegangen
ist.«
»Das weiß man auf der Erde zu
schätzen«, sagte sie mit tief empfundener
Dankbarkeit.
»Ich weiß. Aber das ist kein Problem. Wir alle
sind hier oben hoch motiviert.« Er sog tief die Luft ein,
wobei der Brustkorb sich wie eine Tonne wölbte. »Die
Herausforderung verleiht Flügel. Gut für
Sie.«
Siobhan hatte sich in den letzten sechs Monaten bis an die
Grenze der Erschöpfung verausgabt. »Stimmt
wohl«, sagte sie zweifelnd.
Er musterte sie, und Besorgnis mischte sich in sein zackiges
militärisches Auftreten. »Und wie war der
Flug?«
»Lang. Gott sei Dank gibt es Aristoteles und
E-Mails.«
Das war nun schon die dritte Reise von Siobhan McGorran zum
Mond. Ihre erste Reise war wunderbar gewesen; so wie sie es sich
als Kind erträumt hatte. Die zweite war immerhin noch
aufregend gewesen. Doch die dritte war nur noch Routine –
und zeitraubend obendrein.
Das Problem war, dass auch das Jahr 2038 schon zur Hälfte
vorbei war – ein Jahr war bereits seit dem 9. Juni
vergangen und immerhin ein halbes Jahr, seit Alvarez ihre
epochale Weihnachtsansprache gehalten hatte. Der Tag des
Sonnensturms lag nicht einmal mehr vier Jahre in der Zukunft.
Siobhan wusste auf der Verstandesebene, auf der Basis der Balken-
und Abhängigkeitsdiagramme und kritischen Pfade, dass die
verschiedenen Subprojekte des gewaltigen Schild-Programms recht
gute Fortschritte machten. Aber in ihrem Kopf tickte
unablässig eine Uhr.
Sie versuchte es Bud zu erklären. »Ich bin von
Natur aus eine Pessimistin«, sagte sie. »Ich rechne
grundsätzlich damit, dass Dinge
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