Sonnentaucher
Kontakt reden die Historiker von nahezu nichts anderem mehr.
Das Schicksal der amerikanischen Indianer ist das Moraldrama dieser Ära. Alte Filme aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die den ›edlen Roten‹ glorifizieren, bringen uns heute nur noch zum Lachen. Wie Millie uns neulich auf dem Merkur in Erinnerung rief und wie daheim längst jeder weiß, hat der Rote Mann sich von allen fremden Kulturen am schlechtesten an das Auftreten der weißen Europäer anpassen können. Sein hochmütiger Stolz hinderte ihn daran, die Macht der Weißen zu studieren, bis es schließlich zu spät war – das genaue Gegenteil des erfolgreichen ›Kooptierens‹ der Japaner im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert ... Dieses Beispiel führt die ›Anpassen-und-Überleben‹-Fraktion noch heute allen, die es sehen wollen, vor Augen.«
Er hatte ihr Interesse erregt. Sie alle sahen ihn stumm an. Cullas Augen leuchteten. Sogar Bubbacub, der sonst eher unaufmerksam war, hatte den Blick seiner kleinen Knopfaugen auf Jacob gerichtet. Martine allerdings war zusammengezuckt, als er die ›Anpassen-und-Überleben‹Fraktion erwähnt hatte. Ein Hinweis.
Wenn LaRoque hier wäre, würde er mir nicht gern zuhören, dachte Jacob. Aber LaRoques Unbehagen wäre nichts im Vergleich zu dem seiner Verwandten aus dem Hause Alvarez, wenn diese je hören sollten, daß er solche Reden führte!
»Natürlich war es nicht ausschließlich die Schuld der Indianer, daß sie versäumten, sich anzupassen«, fuhr er fort. »Viele Wissenschaftler vertreten die Ansicht, daß die Kulturen der westlichen Hemisphäre sich in einem periodisch wiederkehrenden Zustand der Mattigkeit befanden, der unglücklicherweise mit der Ankunft der Europäer zusammentraf. Tatsächlich hatten ja die Mayas eben einen Bürgerkrieg hinter sich, in dem sie alle aufs Land hinausgezogen waren und ihre Städte mitsamt Prinzen und Priestern verrotten ließen. Als Columbus ankam, waren die Tempel größtenteils verlassen. Sicher, im ›Goldenen Zeitalter der Maya‹ hatte sich die Bevölkerung verdoppelt, und Reichtum und Handel hatten sich vervierfacht, aber dergleichen ist ja kaum ein brauchbarer Maßstab für ›Kultur‹.«
Vorsicht, mein Junge. Nicht allzu ironisch werden.
Jacob bemerkte, daß einer der Besatzungsangehörigen, ein Mann, den er als Dubrowsky kannte, sich von den anderen abgesetzt hatte. Nur Jacob selbst sah das sardonische Grinsen im Gesicht dieses Mannes. Alle anderen schienen mit unverdächtigem Interesse zu lauschen, obgleich man dies bei Culla und Bubbacub nicht genau zu sagen vermochte.
»Der Vorfahre nun, von dem ich spreche, war ein Indianer. Sein Name war Se-quo-yi, und er gehörte zum Stamm der Cherokee. Die Cherokee lebten damals hauptsächlich im Gebiet des Staates Georgia. Da es an der amerikanischen Ostküste liegt, hatten sie noch weniger Zeit als die anderen Indianer, sich auf den Umgang mit dem Weißen Mann vorzubereiten. Dennoch versuchten sie es auf ihre Art – ein Versuch, der in keiner Weise so großartig oder vollständig war wie der der Japaner, aber immerhin ein Versuch. Sie brauchten nicht lange, um die Technologie ihrer neuen Nachbarn zu übernehmen. Blockhäuser verdrängten ihre Jagdhütten, und Eisenwerkzeug und Schmiedearbeiten wurden Bestandteil des täglichen Lebens bei den Cherokee. Schon früh erlernten sie den Gebrauch des Schießpulvers wie auch die europäischen Methoden des Ackerbaus. Und obwohl vielen der Gedanke nicht gefiel, wurde der Stamm sogar irgendwann zu einer Gesellschaft von Sklavenhaltern.
Dies alles geschah, nachdem sie in zwei Kriegen furchtbare Niederlagen hatten hinnehmen müssen. 1765 hatten sie den Fehler begangen, die Franzosen zu unterstützen, und im Unabhängigkeitskrieg standen sie auf der Seite der Krone. Trotzdem hatten sie es zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zu einer recht ansehnlichen kleinen Republik gebracht, unter anderem deshalb, weil mehrere junge Cherokees sich vom Wissen der Weißen genug angeeignet hatten, um Rechtsanwälte zu werden. Zusammen mit ihren Irokesisch sprechenden Vettern im Norden gelang es ihnen immer wieder, halbwegs günstige Verträge abzuschließen.
Eine Zeitlang.
Dann betrat mein Ahne die Bühne. Se-quo-yi war ein Mann, dem die Wahl, vor die man sein Volk stellte, nicht gefiel – entweder edle Wilde zu bleiben und ausgelöscht zu werden oder sich restlos an Leben und Sitten der weißen Siedler anzupassen und als Volk zu verschwinden. Gewiß sah er, welche Macht das
Weitere Kostenlose Bücher